Mittwoch, 2. Mai 2018

„Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ Regisseurin Kerstin Polte im Interview

von Christine Olderdissen

Charlotte (Corinna Harfouch) steigt aus und macht nur noch was ihr gut tut. / Foto: Alamodefilm


Ein Film über die Liebe und den Tod und den großen Raum dazwischen, das ist der erste abendfüllende Spielfilm der Berliner Regisseurin Kerstin Polte. Im flirrenden Sommerlicht Norddeutschlands, mit Wolken und Meer, nimmt sie uns mit zu einem Roadmovie voller irrwitziger Wendungen. Gott, eine tote Katze und ein kluges Mädchen spielen ebenso eine wichtige Rolle, wie eine Lastwagenfahrerin und eine Taucherbrille. Eine Ehe an ihrem Ende, ein Mutter-Tochter-Konflikt der üblichen Art, der Start in den Ruhestand und das Schicksal der Alleinerziehenden sind die Eckdaten. Mittendrin Charlotte, gespielt von Corinna Harfouch, die „mehr vergisst, als sie erlebt“, und Meret Becker als ihre kratzbürstige Tochter Alex.


Während Charlottes Ausbruch aus ihrem Leben, wie es bisher war, ihre Liebsten mit sich reisst, kommen mit Wucht Konfliktlösungen, wie ungewöhnliche Menschen sie suchen – und die uns beim Zugucken amüsieren. Auf ein surreales Bild folgt das nächste. Kerstin Polte hat mit viel Liebe zu jedem Detail, zu den Off-Texten und den Dialogen und, was ins Ohr geht - auch mit Sorgfalt bei der Musik - die Tragikomödie „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ gestaltet. Wir treffen uns in einem Café bei mir um die Ecke. Kerstin Polte ist vor kurzem in meinen Kiez gezogen, schnell sind wir beim Du.


Corinna Harfouch und Meret Becker haben ein Abo auf Rollen mit schlechtgelaunten Frauen. Warum gilt dein Interesse solch eigenwilligen Frauenfiguren?


Ich wollte auch mal andere Seiten der beiden Schauspielerinnen zeigen und war gespannt: was ist da möglich? In den vergangenen Jahren, während meiner Ausbildung und bei der Vorbereitung auf diesen Debutfilm, haben mir vielschichtige, ambivalente Frauenfiguren häufig auf der Leinwand gefehlt. Das gibt es im deutschen Film und Fernsehen viel zu wenig. Corinna Harfouch habe ich meist in sogenannten „starken“ Frauenrollen gesehen. Bei ihr wollte ich das Weiche einfangen und sie auch mal zerbrechlich zeigen. Darauf hatte sie selber große Lust - und hat sich mit Haut und Haaren in die Figur der Charlotte gestürzt. Sie hat dann auch ungeschminkt gespielt, weil eine Charlotte sich eben nicht schminken würde. Meret Becker hat ein enormes komisches Potential, was in Deutschland selten zu finden ist, tolles Rhythmusgefühl und Spielenergie, ein unkonventionelles Zirkuskind, was nicht erwachsen werden will. Die Fahrlehrerin, die sie spielt, die überall aneckt, erstmal handelt und dann erst nachdenkt - die ist sehr nah an mir dran - und ich glaube auch an ihr.


Du bringst uns mit deinem Film zum Schmunzeln und Lachen, und doch rührst du an die ganz große Frage – wie wollen wir vor dem Tod leben? Warum liegt dir das Thema am Herzen? 

Auslöser für den Erzählmoment war, dass mein Vater kurz nach seiner Pensionierung schwer krank wurde. Die geplanten vielen Reisen um die Welt fielen ins Wasser. Da kriegt man, als Familie, als Tochter, einen ganz anderen Zugang zum Leben und fragt sich: wie fülle ich die Zeit, die ich habe? Neben dem Alltag und seinen Ärgernissen - genieße ich auch? Breche ich mal aus? Mache ich auch mal was anderes und sage Ja anstelle von Nein? Am Sterbebett meines Vaters haben wir uns bis zuletzt Geschichten erzählt und laut gelacht, aber auch geweint. Diesen Tod ins Leben zu lassen, das braucht Mut. Auch für die Entscheidung, ich schmeiß hin und tu nur das, was mir gut tut. Das ist der Weg, den Charlotte im Film geht.


Mit feinen Andeutungen entwickelt sich der Flirt zwischen der Fahrlehrerin und der Lastwagenfahrerin. Sehr leichtfüßig hast du eine lesbische Liebesgeschichte eingebaut. Die Begegnung von Meret Becker und Sabine Timoteo wird zu einer unkitschigen Liebesszene – ganz wie im richtigen Leben.


Für mich ist das subversives Erzählen: En passant passiert eine lesbische Liebe. Wäre der Lastwagenfahrer ein Mann gewesen hätte jeder gesagt, da kommt jetzt eine Liebesgeschichte. Diese lang konditionierte Erwartung wollte ich durchbrechen. Obwohl das mittlerweile normal sein sollte, gibt es viele, die es immer noch überrascht. Dahin wollen wir doch, dass es eine Normalität wird: dass lesbische Liebesgeschichten im Film ihren Platz haben, ohne problematisiert zu werden. Ich lebe das ja selbst tagtäglich.


Im Film sitzt jedes Bild, jeder Dialog. Die philosophischen Off-Texte nehmen uns mit auf eine Reise zu den Fragen des Lebens, obwohl der Film als Komödie tituliert. Du musst an diesem Film ewig gebastelt haben.


Alle meine Filme, auch die Dokus, habe ich mit Sorgfalt und Liebe zum Detail gemacht. Eine Filmproduktion ist enorm komplex und vielschichtig und ringt so vielen Menschen Unmengen an Leidenschaft, Energie und Lebenszeit ab, dass ich als kreatives Zentrum natürlich um jedes Detail kämpfe und in jedem Moment versuche das Bestmögliche für alle rauszuholen. Ich bin überzeugte Teamarbeiterin – jede und jeder einzelne hat bei diesem Film so viel Ideen und Kreativität eingebracht - unter manchmal wirklich widrigen Umständen mit knapper Drehzeit und Geld. Ich finde, dass man das Herzblut und den Mut von uns allen in jedem Bild sehen kann - und das macht ihn so facettenreich. Gott hat beispielsweise lila Fingernägel und wechselt mehrfach seine Augenfarbe. Alle, die den Film mehrmals gesehen haben, sagen, sie entdecken immer wieder etwas Neues. Er ist wie ein Schatzkätzchen.


Familienbild mit dem liebenswerten Gott Bruno in ihrer Mitte:  Hier geht's zum Trailer       / Foto: Alamodefilm


Vor diesem „Frauen-Roadmovie“ bist du mir mit deiner preisgekrönten Doku „Kein Zickenfox“ über das Berliner Frauenblasorchester aufgefallen. Bei arte läuft noch deine Doku über Rapperin Sookee. Du kommst vom Fernsehen, ist Deine Zukunft der Spielfilm, deine eigentliche Passion?


Weg vom Dokumentarfilm würde ich nie gehen. Sookee zu portraitieren war eine ganz tolle, berührende Arbeit. Beim dokumentarischen Arbeiten lernt man das Zuhören, das Abwarten, den richtigen Augenblick zu erkennen und ihn festzuhalten. Man weiß nie, was als nächstes passiert. Auch beim Spielfilm geht es um den authentischen Moment. Egal ob mit Schauspieler*innen oder mit echten Menschen, mir geht es darum, die Momente zu erwischen, die berühren, zuerst mich als Regisseurin und danach die Zuschauer*innen.

Der nächste Spielfilm ist schon in Planung, die erste Förderung ist gekommen. Und dann arbeite ich an einer Primetime-Serie, mit meiner eigenen Firma - und an einem schön verrückten Projekt mit Corinna. Ich mag es, wenn ich mich nicht festlegen muss. Je nachdem was ich gerade gemacht habe - ob Doku oder Spielfilm - ob Serienentwicklung oder Hörspiel - die Vielfalt macht Spaß. Und mir wird immer aufs Neue klar, wieviel Glück ich mit meinem Beruf habe. Ich kann meiner Neugier folgen und immer wieder in neue Lebensbereiche und Universen eintauchen - wenn ich z.B. jetzt mit 43 endlich was zum Thema Feminismus machen will, dann habe ich die Chance dazu - wie jetzt mit meinem Sookee Portrait. Und ich kann die Welt an meinen Gedanken und Fragen teilhaben lassen - und die „merkwürdigen“ Menschen vorstellen, die ich auf meinem Weg entdecke. Es passiert gerade viel in unserer Gesellschaft; unsere Konzepte von Familie und Arbeit, von Rollen und Geschlecht sind in einer spannenden Transformation - tolle Themenbereiche, für die ich Bilder und Geschichten schaffen möchte.


Pro Quote Film beklagt, dass zwar in der Ausbildung zur Filmemacherin viele Frauen sind, dennoch entstehen "nur 15% der Kinofilme unter weiblicher Regie". Wie steinig war dein Weg, deinen Filmtraum Wirklichkeit werden zu lassen?


Von der ersten Idee bis zum fertigen Film waren es sieben Jahre. Er musste reifen. Es ist ja eine Tragikomödie, kein einfaches Genre als Debut. Entweder die Sender fanden es zu lustig oder nicht lustig genug. Generell wurde mir geraten, als Debut nichts mit Humor zu machen. Und auf keinen Fall einen Ensemblefilm. Habe ich nicht draufgehört. Jetzt kommt er zur richtigen Zeit, jetzt wollen viele - glaube ich - solche Geschichten sehen.

Persönlich kann ich nicht behaupten, ich bin so und so diskriminiert worden. Es würde heutzutage kaum mehr einer offen sagen: „Weil du eine Frau bist, geht das nicht“. Es ist meiner Meinung eher ein strukturelles, jahrzehntelang gewachsenes Problem, das wir bei Pro Quote Film, wo ich mitmache, beklagen. Bei der Berlinale hatten wir ein sehr gut besuchtes Spead-Dating mit ARD-Redakteur*innen. Die haben gesagt, „wir müssen mal ein paar Regisseurinnen kennenlernen, wir kennen nicht genug.“ Ich sehe die Dinge gern positiv und freue mich sehr, dass endlich erkannt wird, dass es in Deutschland viele Regisseurinnen gibt, die gute Filme machen.


Ich danke dir für das Gespräch.



„Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ startet am 3. Mai in allen Kinos.

Beim 14. ACHTUNG BERLIN Festival im April 2018 wurde der Film vom Verband der deutschen Filmkritik (VdFK) als Bester Spielfilm ausgezeichnet. Newcomer-Filme von neun Regisseurinnen und fünf Regisseuren, produziert oder auch gedreht in Berlin und Brandenburg, standen im Wettbewerb. Aus der Begründung der VdFK-Jury:

„Da ist ein vertrackter Humor am Werke, der nicht eben häufig im Kino anzutreffen ist. Und der wird nicht verbal vorgetragen, sondern er äußert sich durchweg mit filmischen Mitteln.“



In der Jury des VdFK sitzt DIE FILMLÖWIN, deren Filmkritiken wir gelegentlich übernehmen. Sie hat nach der Preisverleihung ebenfalls mit Kerstin Polte über die Lust an ungewöhnlichen Frauenfiguren gesprochen. Ein lesenswertes Interview.

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