Sonntag, 23. Oktober 2016

Deborah Feldman: Unorthodox, Biographie einer Befreiung

Lesen? Lesen! Frankfurter Buchmesse: 5 Tage, 5 Bücher.
Empfehlungen der Salonistas - Literatur von Frauen über Freiheit


Ein wahrhaftiger Blick in den religiösen Fundamentalismus /  Foto: Stefan Hessel

Orthodoxe Juden mit Schläfenlocken mitten im New Yorker In-Viertel Williamsburg? Ein bisschen befremdlich, für die meisten jedoch lange ein eher folkloristisches Element. Deborah Feldman aber klärt uns in ihrer Autobiographie - dem New-York-Times-Bestseller "Unorthodox" - auf, in welcher Parallelgesellschaft sie hier aufwuchs: in der ultra-orthodoxen chassidischen Satmar-Gemeinde, jiddisch sprechend, ohne weltliche Bildung, mit krassen Kleidungs- und Verhaltensvorschriften, vor allem für Mädchen und Frauen. Die werden allmonatlich "zur Seite gestoßen", wenn ein Tröpfchen Blut ihren Unterleib verlässt.


Die Satmarer gründeten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in New York. Sie sehen den Holocaust als Strafe Gottes an und lehnen den Staat Israel ab, weil es der Wille des Herrn sei, dass die Juden bis zum Erscheinen des Messias in der Diaspora leben müssen. Englisch gilt als unreine, verbotene Sprache, die nicht staatlich kontrollierten Schulen vermitteln nur rudimentäre säkulare Bildung, viele Männer widmen sich den ganzen Tag der Heiligen Schrift, Frauen bekommen Kinder (5,8 im Durchschnitt). Radio, Fernsehen und Internet sind verpönt. Das Alltagsleben ist stark reglementiert, Ehen werden arrangiert, Sexualität ist tabu und wird doch streng kontrolliert.

"Literatur hat mir stets die Kraft gegeben, an Selbstbestimmung zu glauben"

Deborah Feldman / Foto: Secession Verlag


Deborah Feldman, geboren 1986, sucht schon als Kind nach einem Ausweg aus dieser abgeschotteten Welt. Ihre Mutter hat die Gemeinschaft verlassen, der psychisch kranke Vater läuft als Hilfskraft auf den Straßen herum und die hartherzige Verwandtschaft ist stets darauf aus, sich gegenseitig gnadenlos auf jedes Fehlverhalten hinzuweisen. Sicher fühlt das Mädchen sich nur bei der Großmutter in der Küche. Sie ist ein kluges und nachdenkliches Kind, jedes Buch, das sie heimlich irgendwo leiht und Wort für Wort verschlingt, lässt sie verzweifelt zurück und das schwarz-weiß-Denken ihrer Umgebung noch absurder erscheinen. Deborah spürt den unbändigenWillen, mehr zu wissen, weiter zu kommen, unabhängig zu werden. "Literatur hat mir stets die Kraft gegeben, an Selbstbestimmung zu glauben", erklärt sie in ihrem Buch.

"Dieses ewige "Gott will es so" bringt mich zur Weißglut"

Als ihr 18. Geburtstag naht, wird die Kupplerin aktiv und sucht nach einem passenden Ehemann. Im Heiratskurs lernt Deborah die Gesetze der Niddah, "der zur Seite Gestoßenen". Zwei Wochen im Monat gilt die Frau als unrein. Nach der Periode muss sie sieben Tage lang zwei mal täglich mit sauberen Tüchlein nachweisen, dass sie nicht mehr blutet (das heißt, 14 Tücher in die Vagina einführen und an einem Faden wieder herausziehen). Danach gilt es, auf heimlichen Wegen die Mikweh, ein spezielles Bad für Frauen, aufzusuchen, um wieder als rein zu gelten. Während dieser gesamten Zeit dürfen Eheleute sich nicht anfassen, nicht einmal aus einer Tasse trinken. "Männer brauchen das beständige Muster von Versagung und Freigabe", wird ihr erklärt.

"Ich habe so was nicht. Wie sollte ich ein Loch in meinem Körper nicht bemerken"

Deborah Feldman hat nun die Wahl, ein Shpitzel oder ein Sheitel zu tragen, die Haare unter einem Tuch zu verbergen oder die Haare abzurasieren und eine Perücke zu tragen (wofür sie sich entscheidet). "Think of your hair covering as a bra for your hair", lässt ein Rabbi dazu an anderer Stelle verlauten. Nachdem die völlig unaufgeklärte Braut nur verquaste Ansagen über den Liebesakt bekommt, wie die, nachts werde der Mann "über einen Hohlweg zur Quelle" geführt, und auch der Bräutigam keine Ahnung hat, gerät die Hochzeitsnacht zum Desaster. Über Monate hinweg klappt nichts, alle wissen Bescheid, schicken die inzwischen von Panikattacken geschüttelte junge Frau zu diversen Ärzten, bis eine Therapeutin erkennt: "Sie haben Vaginismus". 

"Zur Universität zu gehen, war das Ergebnis einer lebenslangen Sehnsucht"

Nach einem Jahr wird Feldman schwanger und die Geburt ihres Sohnes macht ihr endgültig klar, "ich muss mit dem Kind hier raus". Sie bekommt ein Stipendium am Sarah Lawrence College und zieht Schritt für Schritt den radikalen Bruch mit ihrer Gemeinschaft durch.

"Unorthodox" löste bei seinem Erscheinen in den USA 2012 ungläubiges Staunen aus und erreichte in wenigen Wochen eine Millionenauflage (warum es erst 2016 auf Deutsch erschien, verwundert). Weil Feldman darin auch verschiedene Details ihrer Lebensgeschichte verändert hat, was sie im Vorwort klar begründet, warfen ihr vor allem Menschen aus den eigenen Reihen Verleumdung und falsche Aussagen vor.

Viel wichtiger aber an diesem Buch ist, dass die Autorin eine sehr dunkle Ecke für uns ausleuchtet, brutal ehrlich über ihren Lebensweg schreibt, aufklärt, analysiert und uns unmissverständlich mahnt: "schaut auf den religiösen Fundamentalismus".

"Frauenrechte sind heilig, bis die Religion von Minderheiten ins Spiel kommt"

Es bringt also nichts, nach Lektüre von "Unorthodox" nur entsetzt von spinnerten religiösen Abgründen zu sprechen. Fast alle Religionen halten Folterwerkzeuge für Frauen bereit, um sie und ihre Sexualität zu zähmen. Feldman sieht daher auch den Begriff der Religionsfreiheit skeptisch. "Unsere Gesellschaft ist auf erhabene Weise nachsichtig mit Gemeinschaften, die Kinder und Frauen unterdrücken." Mehr dazu im taz-Debattenbeitag "Befreiung unerwünscht".

"Unsere Gesellschaft", das ist für Deborah Feldman inzwischen die deutsche. Für ihr zweites Buch "Exodus" (2014 auf Englisch erschienen) reiste sie auf den Spuren ihrer Großmutter durch Europa - und blieb mit ihrem Kind in Berlin hängen. Hier fühle sie sich am wohlsten, hat sie der "Berliner Zeitung" erzählt. "Das ist wie ein Zuhause hier. Eine unkapitalistische Stadt, nicht so geldbesessen."


Deborah Feldman: Unorthodox
Secession Verlag, 2016, 22 €

Lesereise der Autorin in den kommenden Monaten. Termine.


5 Tage, 5 Bücher
#1 Tina Stadlmayer über "Die tote Stunde" von Denise Mina
#2 Christine Olderdissen über  "Untenrum frei" von Margarete Stokowski
#3 Angelika Knop über "Vergewaltigung" von Mithu M. Sanyal
#4 Luise Loges über "Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns" von Kristin Helberg

2 Kommentare

  1. Feldman stammt aus einer extremen chassidischen (= extremen ultra-orthodoxen) Gemeinschaft. Nicht alle orthodoxen jüdischen Männer haben lange Schläfenlocken. Aber sehr viele orthodoxe jüdische Frauen tragen Kopftücher, um ihre Haare zu bedecken.

    Siehe hier:

    https://en.wikipedia.org/wiki/Tichel

    http://assets.vice.com/content-images/contentimage/no-slug/76a09e7c68e192e5dd2c2c34ec526a3e.jpg

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  2. Vielen Dank für Ihre Präzisierung.
    Und klar - mit Schläfenlocken allein könnten wir sicher alle prima leben.

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