Freitag, 21. Oktober 2016

Mithu M. Sanyal über Aspekte eines Verbrechens: Vergewaltigung


Lesen? Lesen! Frankfurter Buchmesse: 5 Tage, 5 Bücher.
Empfehlungen der Salonistas - Literatur von Frauen über Freiheit

Mithu M. Sanyal            / Portraitfoto: © Regentaucher.com

In Argentinien treten Tausende in einen Generalstreik gegen die brutale Gruppenvergewaltigung und Tötung einer 16jährigen. Im Landgericht Hamburg jubeln Verwandte und Freunde von Angeklagten, weil die Jugendlichen Bewährungsstrafen erhalten. Sie hatten eine 14jährige vergewaltigt und besinnungslos bei Temperaturen um den Gefrierpunkt in einem Hinterhof zurückgelassen. Zwei Meldungen von vielen an einem einzigen Tag. Der Tag, an dem diese Rezension entsteht. Zwei Meldungen, die deutlich machen, wie schwierig es ist, sich differenziert mit dem aufgeladenen Thema "Vergewaltigung" auseinanderzusetzen. Mithu M. Sanyal schreibt, "dass dieses Buch deshalb mit deutlich mehr Widerständen kämpfen musste als jeder anderer" ihrer Texte. Ein Verlag wagte sich nicht heran und auch bei ihr war "die Schere im Kopf so scharf und die Knoten im Gehirn so festgezurrt", dass es länger dauerte als geplant. Doch es hat sich gelohnt - für die Leser*innen.


"Nicht alle Männer sind potenzielle Vergewaltiger, und nicht alle Frauen sind potenzielle Opfer. Geschlecht ist auch in Bezug auf Vergewaltigung nicht Schicksal." Das ist die These der feministischen Journalistin, Kulturwissenschaftlerin und Autorin. In ihrem ersten Buch "Vulva" ging es um die Kulturgeschichte des weiblichen Genitals, diesmal um die der Vergewaltigung. Sie zeigt, wie sich der Begriff, das Verständnis und die Strafbarkeit der Tat im Laufe der Zeiten gewandelt haben. Und sie kritisiert, dass wir trotzdem noch immer bei diesem Thema so tief in Stereotype verfallen wie sonst nirgendwo.

Schuld und Scham


Sexuelle oder sexualisierte Gewalt geht meist von Männern aus. Sanyal stellt dar, dass Männer aber auch Opfer sind und Frauen Täterinnen sein können. Und dies macht deutlich, dass es nicht um Gene, sondern um Machtverhältnisse und fehlende Empathie geht. Im oben genannten Hamburger Fall zum Beispiel filmte eine 15jährige die Tat.

Das vergewaltigte Mädchen ist nach Medienberichten umgezogen, Aufenthaltsort unbekannt. Eine Nachricht, die zur herrschenden Vorstellung passt, dass nach der erlebten Tat Scham und Angst das Leben beherrschen. Mithu M. Sanyal zeigt, dass das EINE Wahrheit ist, es aber auch andere Reaktionen gibt: "Zusammenreißen ebenso wie Zusammenbrechen und alles dazwischen und darüber hinaus.“ Scham entsteht vielleicht weniger durch die Tat als durch Erziehung, Warnungen, Berichte und gesellschaftliche Erwartungen.

Das Buch ist aktuell, bezieht die jüngste Gesetzesänderung ebenso ein wie den Fall Gina-Lisa Lohfink oder die Silvesternacht in Köln. Es liest sich leicht, trotz des schweren Themas und trotz der 588 Fußnoten, weil die Formulierungen so gelungen, die Beispiel so anschaulich und die Überleitungen so flüssig sind.

Grauzonen und Sexualität


Manchmal aber verwirrt die Fülle der Zitate - darunter auch sich widersprechende. Es kann sich der Eindruck aufdrängen, dass das Argument sich im Kreis dreht oder ins Gegenteil verkehrt. Sanyal erklärt das so: „Was vor 40 Jahren richtig und wichtig war, mag sich verändert haben, deshalb ist es notwendig, unsere Ansichten immer wieder mit den neuen Gegebenheiten abzugleichen." So kommt sie gegen Ende des Buches auf Susan Brownmillers Argument aus dem Bestseller "Gegen unseren Willen" (1975) zurück, dass Vergewaltigung nichts mit Sex, sondern alles mit Gewalt zu tun habe: "Das war wichtig, weil sie damit klarstellte, dass Vergewaltigung nicht eine Spielart von Sexualität ist, sondern ein Verbrechen. Allerdings haben die Grauzonen, in denen einvernehmliche Sexualität aufhört und Vergewaltigung anfängt, eine Menge mit Sex zu tun."

An diesen Grauzonen will sie ansetzen. Bei sexueller Belästigung schlägt sie obligatorische Konsens- und Empathietrainings vor. Vorbeugen bedeutet für sie aber auch: Wir alle sollen lernen, besser über Sexualität zu kommunizieren.


Mithu M. Sanyal: Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens
Edition Nautilus, 2016, 16 Euro

Lesungen und Gespräche mit Mithu M. Sanyal gibt es morgen, Samstag, den 22. Oktober, im Rahmen der Frankfurter Buchmesse
- 13.30 Uhr am ZEIT-Stand, Halle 3.1, D13, Moderation: Susanne Mayer
- 17 Uhr, bei den OPEN BOOKS, Haus am Dom, Domplatz 3, Moderation: Antje Schrupp

5 Tage, 5 Bücher
#1 Tina Stadlmayer über "Die tote Stunde" von Denise Mina
#2 Christine Olderdissen über  "Untenrum frei" von Margarete Stokowski

Morgen rezensiert Luise Loges "Verzerrte Sichtweisen - Syrer bei uns" von Kristin Helberg.

3 Kommentare

  1. Ich finde Eure Reihe zur Buchmesse wirklich klasse! Jetzt bin ich gespannt, welches Thema, welches Buch als Nächstes kommt.Ich würde gerne mehr darüber erfahren, warum ihr Euch für dieses oder jenes Buch entschieden habt. Was hat Euch gereizt danach zu greifen und es zu lesen? Welche Erwartungen hattet Ihr an dieses oder jenes Buch? An diese oder jene Autorin?

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  2. Hallo Dana, im Watch-Salon üben wir bei der Buchauswahl einen spinnenhaften Spagat: zwischen aktueller Neuerscheinung anlässlich der Buchmesse, feministischem Sachbuch, Werke von Journalistinnen oder auch mal etwas Spielerischem. Jede Salonista entscheidet nach ihrer Leselust.
    Luise Loges war als Archäologin oft im Nahen Osten unterwegs, sie kennt das Leben in Syrien, dazu rezensiert sie am Samstag ein Buch. Am Sonntag folgt Magdalena Köster mit einem erstaunlichen Buch über die frauenfeindlichen Gepflogenheiten in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft mitten in New York. Den Anfang hatte unsere London-Korrespondentin Tina Stadlmayer gemacht, mit einem Krimi, worin es um eine toughe Journalistin geht, passt doch. Angelika Knop und ich haben uns zwei aktuelle Must-Reads mit schwerer feministischer Kost vorgenommen. Margarete Stokowski und Mithu M. Sanyal haben sich in Themen vertieft, die wir im Watch-Salon auch immer wieder diskutieren. Gern hätte ich noch Carolin Emckes Buch „Gegen den Hass“ vorgestellt. Sie erhält am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Aber die Buchmesse hat nun mal keine sechs Tage. Und unser Motto ist: 5 Tage, 5 Bücher.

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  3. Danke Christine! Ich finde Deine Erläuterungen aber auch sehr interessant. So erfährt frau auch mehr über den Hintergrund Eurer Auswahl. Spannend!

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