Montag, 2. November 2015

Dunja Hayali: Dialog statt Lügenpresse



"Gratulation, Sie haben eine handvoll von über 4000 Teilnehmern gefunden, die in ihr vorgefasstes Bild passen", "Ihr Video zeigt nichts, absolut nichts und schon gar nicht die Wahrheit" - Zahlreiche solcher Zensur- und Manipulations-Vorwürfe erreichten uns gestern nach dem Posting der On-Reportage von Dunja Hayali bei der AfD-Kundgebung in Erfurt. Deshalb haben wir uns entschlossen, das gesamte Interviewmaterial zu veröffentlichen, damit jeder sich sein eigenes Bild machen kann...
Posted by ZDF morgenmagazin on Donnerstag, 29. Oktober 2015



Der imposante Dom von Erfurt liegt im Dunkeln. Grelles Scheinwerferlicht beleuchtet stattdessen die Kundgebung der AfD auf dem Domplatz. Es ist Mittwoch. Demomittwoch. Seit ein paar Wochen gehen bis zu 8000 Menschen in Erfurt auf die Straße. An diesem Mittwoch sind es 4000. Wogegen demonstrieren sie eigentlich? „Warum sind Sie hier?“ fragt Dunja Hayali. Die Moderatorin des ZDF-Morgenmagazins mischt sich mit Mikrofon und Kamerateam unter die Demonstranten.


Sie ist nach Thüringen gefahren, um die Leute nach ihren Motiven, ihren Sorgen, ihren Bedenken, ihrer Meinung zur Ankunft von hunderttausenden Flüchtlingen in Deutschland zu befragen. Der Vorwurf „Lügenpresse“ schallt ihr entgegen. Journalisten und Journalistinnen, die von rechten Demonstrationen, Pegida-Versammlungen und AfD-Kundgebungen berichten, sind zunehmend Anfeindungen ausgesetzt, manches Mal arten sie in Tätlichkeiten aus.

Dunja Hayali selbst hat zuvor jede Menge Hatemails und abgründige Facebookkommentare abgekriegt. Sie hat das öffentlich gemacht, wie andere Kolleginnen und Kollegen auch, sie hat die Hassbriefe im Fernsehen vorgelesen. Ein starkes Zeichen: Wir lassen uns  nicht einschüchtern.

Dunja Hayali sucht den Dialog


Nun also Erfurt, eine aufgeheizte Stimmung. Dunja Hayali geht mittenrein, zwei Kameramänner und mindestens ein Tonassistent sind ihr schützendes Backup. Wir vom Fernsehen kommen immer im Tross. Mit der Aggression muss man trotzdem umgehen. Hayali bleibt ruhig. Sehr ruhig und sehr souverän. Selbst als zwischen Kamera und Interviewsituation eine wehende Flagge gehalten wird, als die bekannte Journalistin bepöbelt und angerempelt wird.

Das ist das Besondere an diesen Interviews: Dunja Hayali fragt weiter. Und zeigt damit feinstes journalistisches Handwerk. Sie hört zu, hakt nach, nimmt die Menschen ernst. Sie biedert sich nicht an, sie diskutiert nicht. Sie stellt einfache Fragen, sachliche Fragen. Und sie zeigt Haltung. Wenn die Interviewten fremdenfeindlich werden, fragt Sie: „Haben Sie etwas gegen mich? Meine Eltern kommen aus dem Irak.“

Sie bringt die Demonstrierenden zum Reden. Das Bild, das sich damit abzeichnet, ist vielfältig. Die da auf die Straße gehen, sind „die Mitte der Gesellschaft“, wie es jetzt immer heißt. Leute, die sich um Deutschland "sorgen", die den Islam befremdlich finden, die sich von den bürgerlichen Parteien im Stich gelassen fühlen.

Zensur-Vorwurf gegen den Fernsehbericht


Die Interviews wurden zu einem dreiminütigen Report für das ZDF-Morgenmagazin zusammengeschnitten. So ist eben Fernsehen, wir verkürzen auf das Wesentliche, zeigen nur die starken Aussagen. Für alles andere ist keine Zeit, die Zuschauer haben wenig Geduld. Doch nach der Ausstrahlung und dem Posting auf Facebook hagelte es Proteste: „Zensur, Zensur“. Die Redaktion entschloss sich daraufhin alle Interviews zu zeigen, zusammengefügt zu einer 26 Minuten langen  Videodokumentation, verbreitet auf Facebook und Youtube am Freitagmorgen. Übers Wochenende knapp 1,5 Millionen Mal angeklickt.

ZDF Morgenmagazin formuliert als Bildunterschrift zum Facebook-Video:
"Gratulation, Sie haben eine handvoll von über 4000 Teilnehmern gefunden, die in ihr vorgefasstes Bild passen", "Ihr Video zeigt nichts, absolut nichts und schon gar nicht die Wahrheit" - Zahlreiche solcher Zensur- und Manipulations-Vorwürfe erreichten uns gestern nach dem Posting der On-Reportage von Dunja Hayali bei der AfD-Kundgebung in Erfurt. Deshalb haben wir uns entschlossen, das gesamte Interviewmaterial zu veröffentlichen, damit jeder sich sein eigenes Bild machen kann...


Wir erleben darin die Journalistin Dunja Hayali bei ihrer Arbeit, wie sie immer wieder in die Menge hinein geht und Fragen stellt. Dem Mann, der seinen Unmut scheinbar schlüssig begründen kann. Der SPD-Wählerin, die sich zwar auf der falschen Veranstaltung wähnt, aber nicht weiß, wohin sie sich sonst wenden kann. Der Linken-Wählerin, die sich von ihrer Partei im Stich gelassen fühlt. Der wütenden Rentnerin, die sich empört, dass sie mit ihren 500 Euro Rente weniger Geld zum Lebensunterhalt habe als jeder Flüchtling.

Und dann noch Björn Höcke. Gerade eben war er auf der Bühne der Einpeitscher. Nun gibt er vor Hayalis Mikrofon den Smarten. Dunja Hayali bleibt ruhig und fragt: „Schämen Sie sich dafür nicht?“ Der Fernsehkritiker Hans Hoff findet für die Reporterin lobende Worte: „Sie tut dem Gegenüber nicht den Gefallen, emotional aufzuschäumen. Sie läuft nicht in die Falle, die Höcke mit seiner Rhetorik auftut.“ Hoff nennt Hayali einen „Glücksfall des deutschen Fernsehens“.

Wir müssen reden


Die ungekürzte Videodoku jedenfalls straft das Gerede von der Lügenpresse Lügen. Auch die Panorama-Redaktion der ARD hatte auf einen solchen Vorwurf hin im vergangenen Dezember das gesamte Material einer Pegida-Demonstration in Dresden veröffentlicht.

Die Erfurter Longversion ist ungekürzt tatsächlich so viel aussagekräftiger. Denn sie zeigt eines: es ist wichtig, die Menschen mit ihren Sorgen ernst zu nehmen. Sie nicht den rechten Ideologen zu überlassen, von AfD bis Pegida und schlimmer. Sondern reden, reden, reden. Die Leute ausreden lassen, auch vor unseren Mikrofonen. Man erlebt Menschen, die keine Worte für ihre politischen Gefühle finden und solche, die aberwitzige Argumentationen formulieren. Und eben jene, die sich verloren fühlen. Durch die Videodoku haben wir sie gehört. Nun sollte diskutiert werden.


Nachtrag: Dunja Hayali ist mit dieser Dokumentation für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Die feierliche Preisverleihung ist am 13. Januar 2016 in Düsseldorf, im Rahmen eines Neujahrstreffen der Fernsehbranche.

Und dann noch die Goldene Kamera: Überraschende Verkündung durch Claus Kleber während des ZDF-Moma. Dunya Hayalis bewegende Dankesrede bei der Verleihung am 6.2.2016 sehen Sie hier.

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