von Luise Loges
Frauen in weißen Kleidern umarmen schwer bewaffnete Polizisten in schwarzer Schutzausrüstung, reichen ihnen Blumen. Frauen demonstrieren Hand in Hand, umringen ihre männlichen Mitstreiter, um sie vor dem gewaltsamen Zugriff der Sicherheitskräfte zu schützen. Die protestierenden Frauen von Belarus kennt inzwischen die ganze Welt – obwohl das Land vielen vor der Präsidentschaftswahl im August wohl nur als "Europas letzte Diktatur" bekannt war. Was aber steckt hinter diesen starken Bildern? Wie weiblich und wie vielfältig sind die Proteste? Diese Fragen stellte ich an den Osteuropaexperten Jasper Steinlein.
Jasper Steinlein wurde in Franken geboren und lebt heute in Hamburg. Als Auslandsreporter mit Kernkompetenz Osteuropa war er unter anderem in Belarus unterwegs. 2017 bis 2018 nahm er am Mentoring-Programm des Journalistinnenbundes teil. Seit 2020 ist er – nun auch im Berufsleben als Mann gelesen – Redakteur im Ressort Ausland bei tagesschau.de.
Du kennst Belarus schon seit Jahren. Kannst du uns etwas über das Land und seine Menschen erzählen? Wie hast du Belarus als Journalist erlebt?
Das autoritäre präsidiale System von Belarus ist immer noch durchsetzt von alten sowjetischen Strukturen, die teilweise den Namen gewechselt haben, teilweise aber auch nicht. Zum Beispiel heißt der Geheimdienst dort immer noch KGB. Es war bis vor Kurzem ein komplett abgeschottetes Land, für das selbst Tourist*innen ein Visum brauchten. Das ging so weit, dass eine Person, die mit dem Zug von Berlin nach Moskau fahren wollte, ein Transit-Visum für Belarus beantragen musste, nur, um da durchzufahren.
Die Lebensrealität insbesondere der jüngeren Menschen im Land hat aber mit diesem System eigentlich gar nichts mehr zu tun. Belarus ist ein recht bedeutender IT-Standort – viele populäre Browser-Games wie zum Beispiel World of Tanks wurden dort entwickelt. Es gibt in Belarus genau wie bei uns junge Menschen, die sich auf Social Media austauschen und Diskurse über Minderheitenrechte, mentale Gesundheit oder die richtige Work-Life-Balance führen.
Viele Belarussen und insbesondere viele Belarussinnen sind hervorragend ausgebildet, sprechen mehrere Sprachen fließend und haben hohe Bildungsabschlüsse, auch wenn die hierzulande nicht immer anerkannt werden. Die jungen Menschen dort denken teilweise, wenn auch nicht immer, genauso wie wir, sind aber mit diesem postsowjetischen System, das wie eine Pappkulisse um sie herumgebaut wird, konfrontiert. Und diese beiden parallelen Realitäten haben sich spätestens mit der Coronakrise vollkommen voneinander entkoppelt.
Ich kann von meiner persönlichen Erfahrung berichten, als ich 2017 mit der Minsker Geschichtswerkstatt – einem Programm das besonders an NS-Zwangsarbeiter*innen erinnern soll – eine einwöchige Recherchereise nach Belarus gemacht habe. Ich kann mich daran erinnern, dass wir dabei vor allem über die Geschichte gelernt haben. Das lag zum einen an dem Thema dieser Recherchereise, aber zum anderen auch daran, dass die Geschichte in Belarus als das Hauptelement des gesellschaftlichen Zusammenhalts dient, speziell der Zweite Weltkrieg und das viele Leid, was damals erlebt worden ist. Dieser Krieg, der ja nun jedes Jahr länger zurückliegt, war ein wichtiger Teil der Identität und es gab eigentlich gar nichts Neues, was jungen Leuten als identitätsstiftende Ideologie angeboten wurde.
Ich kann mich auch erinnern, dass wir in der Zeit, als wir dort recherchiert haben, nie wirklich alleine waren. Wir hatten immer Begleitung, obwohl allen klar war, dass wir fließend Russisch sprechen und uns durchaus verständigen können. Wenn du in Belarus als Journalist*in arbeitest, ist dir klar: du bist nie alleine, insbesondere dann nicht, wenn du glaubst, alleine zu sein.
Wie geht Belarus mit Journalist*innen, mit freier Meinungsäußerung und Presse um?
Jetzt, 2020, berichten Reporter*innen und Korrespondent*innen, die schon lange vor der Wahl versucht haben, sich zu akkreditieren, dass so lange keine Akkreditierungen ausgesprochen wurden, dass sie zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht im Land sein konnten, weil sie nicht legal als Journalist*innen einreisen konnten. Nach der Wahl ist das etwas besser geworden, inzwischen sind auch etliche Korrespondent*innen eingereist. Denen wird das Leben aber konsequent schwer gemacht. Die werden also unter dem Vorwand von Kontrollen festgehalten, teilweise stundenlang. So wird die freie Berichterstattung systematisch behindert.
Für die Journalist*innen aus Belarus selbst ist die Lage allerdings noch wesentlich drastischer. Ich habe zum Beispiel mit einer Kollegin im Land telefoniert, die ich gleich nach der Wahl angeschrieben hatte. Da kam erst einmal keine Antwort und dann die Frage "Gilt deine Anfrage noch? Ich hatte die letzten Tage kein Internet." Also die ersten Tage nach der Wahl wurde erst mal das Internet abgestellt. Die staatlichen Fernsehkanäle gingen überhaupt nicht auf die Proteste oder den tatsächlichen Verlauf der Abstimmung ein. Die einzige Möglichkeit, an verlässliche Nachrichten zu kommen, sind soziale Netzwerke, wenn der Internetzugang gekappt wird, ist die nicht da.
Die Reporter*innen sind trotzdem zur Recherche rausgefahren und haben immer wieder Proteste vorgefunden. Sie haben oft davon berichtet, dass sie dabei festgehalten wurden, gezwungen wurden, ihr Bildmaterial zu löschen, Speicherkarten auszuhändigen und Ähnliches. Von meiner Kollegin habe ich gehört, dass sie ihrerseits keine Informationen über den Aufenthalt etlicher ihrer Kolleg*innen hatte. Die sind sehr wahrscheinlich in den ersten Tagen nach der Wahl festgenommen worden. Nach und nach wurden viele freigelassen, manche sind immer noch in Haft, einfach nur, weil sie über die Proteste berichten wollten.
Was wollen die Protestierenden?
Ich glaube, nicht alle Demonstrierenden und allgemein nicht alle Belaruss*innen wollen das Gleiche. Es fängt schon bei der Frage an: Hat Swetlana Tichanowskaja die Wahl gewonnen oder nicht? Es gibt tatsächlich viele Menschen im Land, die glauben, dass sie in einem legitimen Verfahren die meisten Stimmen erhalten hat. Da die Wahl aber manipuliert war, keine freie Auszählung stattgefunden hat und wir das spätestens jetzt nicht mehr nachprüfen können, wissen wir das nicht. Ein Teil der Demonstrierenden sagt also: Swetlana Tichanowskaja ist meine Präsidentin und ich möchte, dass ihr zu ihrem Recht verholfen wird, das Land übergangsweise zu regieren. Sie hat ja gesagt, dass sie nur Übergangspräsidentin sein und den Weg zu freien Wahlen ebnen will. Manche Belaruss*innen möchten, dass ihr dazu verholfen wird. Andere wollen nur, dass Lukaschenko, den einem beliebten Meme nach nur noch drei Prozent der Bevölkerung unterstützen, endlich seinen Platz räumen muss.
Ich habe zum Beispiel auch mit einer queeren und feministischen Aktivistin telefoniert, die sagte, sie fühlt sich durch keine der drei Kandidatinnen in Tichanowskajas Frauenteam repräsentiert. Die eine, Weronika Zepkalo, ist die Frau eines Oligarchen, die zweite, nämlich Tichanowskaja selbst, hat im Wahlkampf immer wieder betont, dass sie ja gar nicht Politikerin sein will, sondern eigentlich "nur" die Ehefrau eines Bloggers sei. Damit hat sie auch kokettiert, um den misogynen Angriffen Lukaschenkos den Wind aus den Segeln zu nehmen, der immer sagte, er könne sich doch nicht mit einer Frau über Politik unterhalten. Damit hat Tichanowskaja im Wahlkampf gespielt. Dadurch fühlt sich meine Bekannte nicht repräsentiert und auch nur teilweise durch Maria Kolesnikowa, die jetzt ebenfalls in Haft sitzt. Sie ist sich auch sicher, dass von diesen drei Frauen keine für die Bedürfnisse queerer Menschen offen ist.
Und dann gibt es noch viele ältere Menschen, die sich als unpolitisch begreifen, für die aber die wirtschaftliche und soziale Situation mehr und mehr untragbar geworden ist. Die Corona-Pandemie ist von Lukaschenko konsequent geleugnet worden. Da sind quasi auch die Letzten noch vom Glauben abgefallen, und die möchten jetzt in erster Linie, dass sich die Versorgungslage verbessert.
Noch einmal zu Tichanowskajas Frauentrio: Welche Rolle spielt es, dass diese Frauen sich selbst nicht als Politikerinnen darstellen?
Zum einen hat es Tichanowskaja sehr geholfen zu betonen, dass sie selbst nicht an die Macht will. Hierzulande trauen die meisten Menschen den Politiker*innen noch zu, dass sie etwas verändern wollen, und nicht nur um der Macht willen in der Politik sind. In Belarus ist das meiner Erfahrung nach anders. Wenn jemand Politiker*in ist, dann ist das schon ein Grund, dieser Person zu misstrauen, denn die Assoziation, die da mitschwingt ist: Da ist eine Person, die sich nur auf Kosten anderer bereichert, die in eine Machtposition will, um das Beste für sich herauszuschlagen und wir können von Glück sagen, wenn diese Person uns das Leben nicht noch schwerer macht – aber helfen wird sie uns sicherlich nicht. In diesem Kontext ist es zu verstehen, dass Tichanowskaja sehr viel Vertrauen gewinnen konnte, indem sie sich nicht als Politikerin dargestellt hat. Ihr einziges Programm war ein halbes Jahr Übergangszeit, in dem alles für eine freie Wahl vorbereitet wird.
Der zweite Aspekt hat mit Geschlechterklischees zu tun. Ich wage zu behaupten, dass es selbst in Deutschland noch nicht normalisiert ist, als Frau zu sagen, "ich will Macht" – oder auch nur, "ich will Verantwortung". Bei einem Mann ist das in Ordnung, der wird eher abgewertet, wenn er nicht an die Macht will. Ein Mann soll etwas "aus sich machen", eine Frau aber nicht. Und wenn doch, dann hat sie nicht darüber zu reden.
In Belarus ist dieser Druck noch viel stärker. Es wäre als Frau nicht möglich, den Wunsch nach Macht zu äußern. Es ist auch noch viel stärker der Glaube verbreitet, was die Norm sei, was "eine Frau wolle". Und das sei eben, eine Familie zu gründen. Lukaschenko selbst hat die jungen Belarussinnen immer wieder dazu aufgefordert, mindestens drei bis vier Kinder zu bekommen. Er hat vollkommen unterschätzt, dass Tichanowskaja gewinnen könnte, gerade weil sie eine Frau ist, weil sie genau mit dieser Definition von Weiblichkeit kokettiert und betont, dass sie viel lieber zu Hause bei ihren Kindern wäre, als sich um das Präsidentenamt zu bewerben, ihr aber gar keine Wahl bliebe, weil ihr Mann eben im Gefängnis sei.
Lukaschenko glaubt wohl wirklich, er hätte diese Wahl gewonnen und die Belaruss*innen stünden hinter ihm. Er hat ja 26 Jahre nichts anderes gesehen, als diese Jubelvideos, die da immer im Fernsehen gesendet werden. Und er glaubt insbesondere, dass Frauen sich mit den schwierigen, schmutzigen Details der Politik gar nicht befassen wollen. Und so hat er unterschätzt, dass eine weibliche Gegenkandidatin ihm tatsächlich gefährlich werden kann. Wäre da ein junger Mann aufgetreten, wäre der gar nicht erst zur Wahl zugelassen worden.
Wie weiblich, wie jung, alt, etc. sind die Proteste eigentlich wirklich?
Ich habe meine Gesprächspartner*innen immer wieder gefragt, wer da eigentlich auf die Straßen geht und demonstriert. Die Demos waren anfangs nicht flächendeckend, sondern an vielen unterschiedlichen Orten in kleineren Gruppen. Diese riesigen Märsche quer durch Minsk, die hier gesendet wurden, kamen erst später. Ich halte es aber für glaubwürdig, wenn gesagt wird: Dieser Protest kommt aus dem ganzen Volk. Immer wieder haben Gesprächspartner*innen betont: "Wir können zwar nicht behaupten, dass diese und jene oppositionelle Figur für uns alle spricht, wir alle wollen aber, dass das System Lukaschenko endet!"
Wer aber auf die Straße geht, ist noch einmal unterschiedlich davon, wer das unterstützt. Zu Anfang, insbesondere bis in die Nacht hinein, haben vor allem junge Männer demonstriert, weil auch schon viele Sonderpolizisten und Sicherheitskräfte unterwegs waren. Es kommt allerdings auch auf andere Faktoren an, zum Beispiel, wer noch bei der Arbeit ist und deswegen unter der Woche nicht unbedingt auf die Straße gehen und demonstrieren kann. Aber auch die Generalstreiks, die jetzt immer wieder stattfinden, zeigen, dass auch die mittlere bis ältere Generation die Proteste unterstützt und eben auch die Männer, die ja großteils in diesen Fabriken arbeiten.
Die Frauen kamen ins Spiel, als sie sagten: "Diese Gewalt, die hier stattfindet, lehnen wir ab." Das ist für mich das besondere Weibliche an dieser Revolution. Denn nach der Wahl stand vielleicht noch nicht die ganze Bevölkerung gegen Lukaschenko, nicht alle wären vielleicht bereit gewesen, auf die Straße zu gehen, aber es stimmen doch alle zu, dass diese Brutalität gegen das eigene Volk nicht stattfinden darf. Und die Frauen sind diejenigen, die die Folgen ausbaden müssen. Denn Ärztin und Krankenpflegerin sind in Belarus weibliche Berufe. Das heißt, die Verletzten der Demonstrationen kamen bei den Frauen an und die mussten sie wieder gesund pflegen. Das heißt die Leidtragenden dieser Polizeigewalt waren in erster Linie physisch die Männer und dann die Frauen, die das auffangen mussten. Und deswegen sind Ärztinnen auf die Straße gegangen und haben ein Ende der Gewalt gefordert.
Zu Anfang hatten Frauen nicht das gleiche Risiko, festgenommen zu werden wie Männer. Da spielt auch wieder ein Frauenbild mit hinein, das es nicht im gleichen Maße bei uns gibt. Die Männer bekommen Hemmungen anerzogen, zumindest im öffentlichen Raum Gewalt gegen Frauen anzuwenden. Im Kontrast dazu wird partnerschaftliche misogyne Gewalt oft romantisiert. Aber bei den Polizisten gab es bis vor Kurzem noch die Vorstellung, sie dürften Frauen nicht grob anfassen. Daher kamen diese Hemmungen, Frauen festzunehmen und deswegen haben viele Frauen sich an Männer gehängt, denen die Festnahme drohte, oder sie umringt, um das zu verhindern. Das ist auch oft gelungen. Mittlerweile ist auch diese Grenze gefallen und wir sehen, wie Frauen zu hunderten festgenommen werden.
Etwas, das mich besonders beeindruckt hat, ist, dass inzwischen auch Menschen mit Behinderung auf die Straße gehen und demonstrieren. Dazu muss man wissen, dass diese Menschen in Belarus vollkommen unsichtbar waren. Die wenigsten Menschen mit Behinderungen leben in ihren Familien, die meisten werden in Pflegeheime abgeschoben und weil überhaupt keine Barrierefreiheit vorhanden ist, gibt es physisch fast keine Möglichkeit, ohne Hilfe auf die Straße zu gehen und an einem Marsch teilzunehmen. Und das hat sich jetzt geändert. Diese plötzliche Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung hat mich besonders beeindruckt. Was immer die Folgen dieser Proteste sein werden, spätestens jetzt ist etwas passiert, was nicht mehr umkehrbar ist.
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