Sonntag, 20. März 2016

Lesen? Lesen! #4: Wie Patti Smith ihr bewährtes Papierschwert zog und "M Train" schrieb.


Leipziger Buchmesse: 4 Tage, 4 Bücher.
Empfehlungen der Salonistas - interessante Neuerscheinungen von Frauen


Nicht nur unsere Punk-Ikone sammelt Devotionalien. Von "Horses" bis "M Train".         / Foto: M. Köster

Patti Smith again. In ihrem neuen Buch "M Train" nimmt sie uns freimütig an die Hand. Mit in ihr Stamm-Café, um das Leben zu beobachten, sich Notizen zu machen, den vierten Kaffee zu trinken. In ihre New Yorker Wohnung und ihre Welt der Devotionalien, der Bücher und Bilder ihrer Hausheiligen. Auf Reisen zu den Gräbern geliebter Schriftsteller, denen sie mehr Raum einräumt als den eigenen Konzerten in fremden Städten. Wie eine Art roadmap hat die Sängerin und Dichterin die künstlerischen und biografischen Stationen ihres Lebens aufgezeichnet und staunend nehmen wir zur Kenntnis, dass dazu auch Nächte exzessiven Fernseh-Krimi-Konsums gehören. "Kommissare sind so zwanghafte Wesen wie ich."


"Sie wird der alte Drachen der Mythologie werden", hat der Dichter Allen Ginsberg seiner engen Freundin vorausgesagt. Wenn, dann ist sie ein friedlicher Drache geworden, äußerlich eine würdevolle Indianerin, eine Schamanin, die uns vorlebt, einfach mal inne zu halten. Zu verreisen, ohne sich zu bewegen. Das Netz und die Smartphones zu ignorieren. Tatsächlich bedeutet ihr heute mehr, in Ruhe durch ein Antiquariat mit verstaubten Büchern zu schlendern, als mit einem furiosen Bühnenauftritt ihr altes Image zu pflegen.


Die Amerikanerinnen mit Achselhaar erschrecken. Plattencover "Easter" 1978

Sie lebt in einer reichen Eigenwelt, hängt konzentriert einer vergangenen Begegnung nach, umgeben von billigen Polaroids ihrer persönlichen Ikonen und symbolbeladenen Gegenständen wie dem Schreibtisch ihres Vaters. "Ich folge einer Kette von Impulsen, die an Erleuchtung grenzen", so beschreibt sie das. Wenn die Melancholie zu nahe rückt, wird auf affirmatives Denken umgeschaltet. "Denkt glückliche Gedanken" spricht dann Peter Pan zu ihr und schon taucht das Bild des zehnjährigen Mädchens Patti vor ihr auf, ein ungebärdiges, wildes Wesen, das auf Rollschuhen laut klackernd durch die Straßen seiner Kindheit saust. Und wenn sie mit den assoziativen Gedankenketten wieder tief genug in ihre alte Seele geschaut hat, setzt sie sich mit einem Notizheft an ihren kleinen Tisch im Café 'Ino. Der Kellner kennt das Ritual. Vollkorntoast, ein Schälchen mit Olivenöl und Kaffee. An diesem Platz, ganz altmodisch, zieht unsere Dichterin ihr "Papierschwert", und arbeitet an ihrem "Mental-Train", dem Gedankenzug (daher M Train).

 "Alle Schriftsteller sind Penner, vielleicht auch ich"


Ganz schön irritierend, so einem Leben zuzuschauen. Ob wir das könnten? Ob wir das mal können wollen, wenn wir uns wie sie dem 70. Lebensjahr nähern? Die Tagespolitik beiseite lassen? Eine "Arie auf einen Mantel" schreiben, das alte, zerlöcherte Kleidungsstück, und danach der Frage nachhängen "Trauern unsere verlorenen Habseligkeiten auch um uns?" Vielleicht schafft das auch nur die "Godmother of Punk", die sich kein bisschen um ewige Jugendlichkeit bemüht, sondern einfach ihrer starken Energie vertraut. "Ich wusste schon als kleines Kind, dass etwas Besonderes in mir war. Ich war nicht attraktiv, nicht eloquent, nicht besonders in der Schule. Aber ich hatte diesen gewaltigen Spirit in mir, der mich in Gang hielt", schrieb sie in ihrem Buch "Just Kids", das ihr 2010 den "National Book Award" einbrachte. Ein bisschen Nostalgie erlaubt sie sich dann doch:

"Ich bin noch immer dieselbe, mit all meinen Fehlern, denselben alten knochigen Knien, Gott sei Dank ... aber ich merke, dass ich eine bestimmte Sache an mir vermisse, die fieberhafte, respektlose."
                                                                                       Patti Smith an ihrem 66. Geburtstag


In einem uralten Emma-Interview von 1979 wehrt sich Smith nicht nur dagegen, wie ihr Alice Schwarzer verbal auf die Pelle rückt ("ich habe nicht erwartet, dass Ihr so offen seid") sondern auch  vehement gegen die Vereinnahmung als Ikone der Frauenbewegung. "Ich habe kein Interesse daran zu sagen, ich bin ein weiblicher Poet ... Die Frau in mir ist wie der Mann in mir, Teil meiner kreativen Instinkte." Dass Patti Smith keine "Frauenfrau" ist, zeigt auch dieses Buch, in dem neben etlichen männlichen Freunden nur eine Freundin in Japan erwähnt wird. Sie sei eine "Heldenanbeterin", schreibt sie und flicht ihren Künstlern einen Rosenkranz. Rimbaud, Verlaine, Bulgakov, Genet, Brecht, Nietzsche. Ja, auch Sylvia Plath zitiert sie, besucht das Haus von Frida Kahlo, aber mir scheint, es ist eher deren Schicksal, das sie fasziniert.


"M Train", Patti Smith, Kiepenheuer & Witsch, 2016,  € 19,99

Lesen? Lesen! 
#1 Christine Olderdissen über "Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen" 
#2 Tina Stadlmayer über "Fifty Shades of Merkel"  
#3 Luise Loges über "Emanzipation im Islam"

 

Mehr über Patti Smith' Lebensgeschichte gibt es auf der Homepage "Biography". Außerdem viele wunderbare alte Fotos der Sängerin.

 

Neue Tourdaten, unter anderem ein Auftritt am 1. Juli 2016 im Londoner Hyde-Park, stehen auf ihrer eigenen Homepage.

Kommentare

  1. Sie ist schon eine tolle Musikerin und eindrucksvolle Persönlichkeit. Schade, dass Frauen für sich nicht so wichtig sind. Ich war vor einem Jahr auf einem Open-Air in London, wo Patti Smith neben vielen anderen auftrat. Da las sie 10 Minuten lang die Namen toter Musiker, die ihre Freunde waren, vor (Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Lou Reed ...) Das war schon seltsam, weil das Publikum bei jedem Namen begeistert klatschte, irgendwie makaber. Aber am meisten hat mich gestört, dass keine einzige Frau dabei war.

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