Symbolbild Wissenschaftlerin - auch Marie Curie passt zum ironischen Meme #distractinglysexy. (Bild: Wikimedia) |
Man sagt, die Sieger schrieben die Geschichtsbücher. Im Fall des 72jährigen Wissenschaftlers Tim Hunt trifft das offenbar nicht zu. Denn einerseits scheint er derzeit der Verlierer zu sein. Immerhin verlor er kürzlich seine (unbezahlte) Honorarprofessur am University College London und beschwert sich nun, man habe ihn "komplett im Stich gelassen". In einer Sache, die er sich komplett und ohne Not selbst eingebrockt hat: Seine Tischrede bei einem von koreanischen Wissenschaftlerinnen ausgerichteten Mittagessen enthielt eine Reihe sexistischer Äußerungen.
Andererseits wiederholen seriöse Medien nun unhinterfragt Hunts nachträgliche Behauptung, seine Tischrede sei nur schräger Humor gewesen.
1. Auch ein Witz kann sexistisch sein
Nun muss man erstens dringend klar stellen, dass sich die Kategorien "witzige Bemerkung" und "Sexismus" nicht gegenseitig ausschließen. Auch ein Witz kann sexistisch, rassistisch usw. sein und damit unangebracht. (Dass viele Menschen das trotzdem und andere es gar nicht nicht witzig finden, steht auf einem anderen Blatt.) Hunts nachträgliche Behauptung, es sei Humor gewesen, erklärt und entschuldigt also rein gar nichts; auch wenn der Sachverhalt leider von den meisten Medien fälschlich so gedeutet wird.
Tatsächlich witzig und humorvoll - darin sind sich immerhin auch die Medien einig - war die Reaktion vieler junger Wissenschaftlerinnen im Netz, die sich unter dem ironischen Hashtag #distractinglysexy selber sichtbar machten.
2. Opportunistische Meinungsänderung
Zweitens und vor allem muss die volle Geschichte erzählt werden. Hunts Versuch, seine unpassenden Sätze als Witz hinzustellen, wären schon unter normalen Umständen eine sehr durchsichtige Taktik. In diesem besonderen Fall kommen aber drei JournalistInnen hinzu, die vor Ort waren und seine Worte mit Bedacht, erst nach einem Vergleich ihrer jeweiligen Notizen und dann in enger Absprache miteinander vertwitterten. Eine von ihnen, Deborah Blum, twitterte einen Tag später ergänzend: "Ich habe ihn am nächsten Tag nochmal darauf angesprochen. Und er hat seine Äußerungen wiederholt." Sowie: "Ja, ich hatte gehofft, er würde sagen, es sei ein schlechter Witz gewesen. Aber er hat es nur noch weiter ausgeführt." (Ein etwas ausführlicheres Twitter-Storify von Blum findet sich hier.)
Erst später sagte Hunt der BBC, es sei ein Witz gewesen.
Nun gehört es sich nicht, im Nachhinein seine Meinung darüber zu ändern, wie denn nun etwas gemeint war. Hunt aber lässt man das offenbar durchgehen: Ganz unkritisch übernehmen und verbreiten die deutschen Medien die nachträgliche Hinzufügung des Adjektivs "humorvoll". So schreibt Spiegel Online: "Der BBC sagte Hunt, seine Äußerung sei humorvoll und ironisch gemeint gewesen." Und auf Zeit Online heißt es: "Die Bemerkungen seien humorvoll gemeint gewesen."
Deborah Blums Beobachtungen dagegen finden sich in den deutschen Medien nicht wieder: Ich habe Zeit.de, Sueddeutsche.de, Welt.de, Tagesspiegel.de vergeblich nach der bloßen Erwähnung von Deborah Blum in den Tim-Hunt-Artikeln durchsucht.
Kontext, bitte!
Erst bei Spiegel.de wurde ich endlich fündig: Gestern erschien dort ein weiterer Artikel zu Hunt, in dem immerhin Deborah Blums Name vorkommt. Ihre Version der Geschichte wird darin allerdings noch immer nicht erzählt. Statt dessen handelt der Text von einem weiteren, allerdings nachträglich angefertigten Protokoll des Mittagessens, demzufolge Tim Hunts Äußerungen tatsächlich wie ein sehr, sehr schräger Witz wirken. Ob dieses Protokoll oder aber Deborah Blums Erinnerungnen der Wahrheit näher kommen, werden wir wohl nie erfahren. Da aber auch Spiegel Online zweiteres noch immer nicht erwähnt, ist die deutsche Berichterstattung weiterhin extrem einseitig. Und auch obiger Punkt 1 gilt noch immer.
Ich bin dagegen, einen Mob auf Hunt zu hetzen. Das hat allerdings, wie sowohl der Physiker Markus Pössel als auch der Kolumnist Nils Pickert glasklar zeigen, niemand getan.
Ich bin jedoch unbedingt dafür, dass man Aussagen in den nötigen Kontext einbettet. Kontext ist eine der Kernaufgaben der Medien. Erzählt Hunt, es sei alles ein Witz gewesen, so muss seine Aussage mit der Beobachtung Blums kontrastiert werden. Wenn dagegen die deutschen Medien ausnahmslos Hunt - der (zufälligerweise?) ein älterer weißer Mann ist - die Geschichte schreiben lassen, dann ist das einfach nur eins: schlechter Journalismus.
Deborah Blums "Version der Geschichte" ist nicht wirklich eine Geschichte. Sie hört im entscheidenden Moment auf, wörtlich zu zitieren.
AntwortenLöschenDie vergleichsweise vollständige Version der Geschichte enthält alles, was zitiert wurde, und ist darüber hinaus schlüssig, Hunt lobt Frauen in der Wissenschaft und bezeichnet sich selbst als Chauvinisten. Da könnte man jetzt noch reininterpretieren, dass Hunt selbst lieber weniger Frauen im Labor hätte, sich aber dem Zeitgeist fügt. Aber im Grundsatz muss man anerkennen, dass auch Hunt bewusst geworden ist, dass Frauen in Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden in seiner Wissenschaft. Hoffentlich eine bessere als in Disziplinen wie Jura, Soziologie oder Psychologie. Wer dort als Frau wissenschaftlich unterweges ist, ist auf der Genderschiene unterwegs. Und die produziert kein Wissen, sondern Ideologie.
Nachtrag: Dan Waddell and Paula Higgins haben inzwischen eine akribische Rekonstruktion von Tim Hunts Tischrede, den Reaktionen darauf und der Nachgeschichte angefertigt. Sie findet sich hier: https://medium.com/@danwaddell/saving-tim-hunt-97db23c6ee93
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