Mittwoch, 25. März 2020

Corona-Hackathon #WirVsVirus: Kollektive Solidarität – ganz ohne Shitstorm

von Gastautorin Beatrix Boutonnet

In die Tasten hauen: Die Münchner JB-Regionalsprecherin Beatrix Boutonnet im Wochenendeinsatz / Foto: privat

Es war eine kleine Notiz im Netz, dann ein Schreiben vom Deutschen Journalistenverband (DJV), die mich auf den Hackathon #WirVsVirus aufmerksam machten. Ich bin keine Tekkie, aber ich mag Engagement, Mut und Haltung und das Gefühl "Wir schaffen das". Also habe ich mitgemacht - und war mittendrin im gigantischen, gemeinsamen Programmierwettbewerb gegen die Coronakrise.  27.000 Freiwillige suchten von Freitag- bis Sonntagabend in 1.500 virtuellen Teams gemeinsam nach Lösungen zu vielfältigen Problemen – ganz ohne Bezahlung.



„Wir bauen auf Mut“ stand da in dicken Lettern auf leuchtend orangem Grund. Diese Karte lag vor wenigen Wochen in meinem Briefkasten - und hatte nichts mit Covid-19 zu tun. Es war eine Einladung vom Zentralen Immobilien Ausschuss (ZIA) - zusammen mit dem GdW der Spitzenverband der Immobilienwirtschaft. Zu diesem Zeitpunkt drehte sich meine berufliche Welt noch um Mietpreisbremse, Prop-Techs, serielles Bauen, Allzeit-Hochs bei Büro-, Hotel- und Einzelhandelsimmobilien, Renditeerwartungen der internationalen Investoren und Finanzierungsmöglichkeiten. Der Immobilienmarkt boomte, die Branche war in Feierlaune. Ich trug also den „Tag der Immobilienwirtschaft“ am 25. Juni 2020 in Berlin in den Kalender ein. Auch meine Termine für die MIPIM - nach der Expo Real in München, die größte und wichtigste Immobilienmesse weltweit – standen. In wenigen Tagen sollte es losgehen an die Côte Azur nach Cannes. Doch daraus wurde nichts. Jetzt steht die Karte in meinem Flur, um mich daran zu erinnern, den Mut nicht zu verlieren.

 

Alles hat sich verändert


Für die Menschen ist die Corona-Pandemie eine schwere Zeit. Medizinisch, wirtschaftlich, politisch, rechtlich und sozial wird sie immer mehr zu einer riesigen Herausforderung, denn wir befinden uns dadurch alle in völlig neuen Situationen. Das Virus ist dabei das große Unbekannte. Das macht Angst. Menschen reagieren darauf unterschiedlich. Einige kritisieren, andere bagatellisieren, wieder andere applaudieren vom Fenster aus dem medizinischen Personal. Plötzlich ändert sich auch die Systemrelevanz. Die Arbeit in Krankenhäusern, Praxen und Laboren, an den Supermarktkassen, auf dem Bau und bei der Müllabfuhr erscheinen in einem neuen Licht.



Auch die Arbeit von Journalist*innen wird plötzlich wieder als systemrelevant eingestuft, seit die seriösen Medien durch gute Information ihre gesellschaftliche Funktion deutlich zeigen.

Umsetzung in Rekordzeit


Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Und so rief eine Gruppe aus sieben Organisationen - Prototypefund, Code4Germany, Initiative21, Impact Hub Berlin, Tech4Germany, SEND e.V. und Project together - einen Hackathon ins Leben. Das ist ein digitaler Ideenwettbewerb, in dem Teams aus verschiedenen Disziplinen zusammen und unter Zeitdruck versuchen, innovative, meist digitale Lösungen für bestimmte Problemstellungen zu entwickeln. Vorbild war ein Hackathon in Estland. Die Baltenrepublik ist digital eines der führenden Länder. Die Orga-Teams arbeiteten zuerst eigenständig, kommunizierten aber über Mails und Liveschaltungen auf Youtube über notwendige Infos, Termine und Fristen. Bis zum Start am Freitag waren rund 100 Menschen involviert. Das Kanzleramt übernahm die Schirmherrschaft.

Ansturm bringt System an seine Grenzen


Der Erfolg war überwältigend, doch wenn sich 42.000 Teilnehmer:innen gleichzeitig anmelden wollen, bringt das selbst stabile Systeme ins Wanken. Und so meuterte anfangs die Technik angesichts des riesigen Ansturms. Die Slack-Server waren erst einmal überfordert. Doch dann wurden die Anmeldungen gesplittet und bis Freitagnacht waren alle drin – ohne Hate-Kommentare und Shitstorms. Geht also auch! Bis sich alle orientiert und die Teams sich gefunden hatten, brauchte es Zeit, denn die meisten Teilnehmenden hatten sich ja vorher noch nie gesehen - und ganz unterschiedliche berufliche Backgrounds. Einige stiegen auch zu Beginn oder im Laufe des Wochenendes wieder aus, doch in Summe fanden sich schließlich 1.500 virtuelle Teams. Laut Angaben der Veranstalter unterstützten auch mehr als 1.500 Unternehmen und Start-ups die Teams.

Hilfe, ich bin überfordert


Wie viele Teilnehmende wollte auch ich mehr tun, als Artikel schreiben, in sozialen Netzwerken posten, am Balkon stehen und klatschen. Ein probates Mittel: Die Angst vor dem Ungewissen ganz pragmatisch in Aktivität zu umzuwandeln: Kochen, Einkaufsdienst für Senioren im Haus anbieten und Ideen für Lösungen zu finden, wie durch diesen Hackathon. Wer aber agile Tools nur theoretisch kennt und noch nie mit Slack oder Devpost gearbeitet hat, war aber zuerst einmal maximal verwirrt. Zudem hat die Tech-Community ihre eigene Sprache. Doch klein beigeben wollte ich auch nicht, wo doch so viele die Challenge (Herausforderung) annahmen und sie auch beherrschten.

Also setzte ich mich am Freitagnachmittag an den Computer, schaute mir auf YouTube die Eröffnungs-Session an und wollte loslegen. Doch der Start war holprig. Der Slack-Zugang funktionierte noch nicht. Ich wechselte zu Devpost. Nach einigem Hin- und Her-Geklicke, Ausprobieren und frustriertem Kaffeekochen konnte ich mir dort ein Profil anlegen und ein eigenes Projekt eintragen. Ich will meinen, seit Jahren angelegten und immer aufgeschobenen, Blog „savoir vivre – le mag“ (Welch passender Titel!) mit gut recherchiertem, positivem Journalismus füllen. Dann wartete ich, dass etwas passiert: ein Follower, ein Kommentar oder vielleicht ein Chat.  Nichts tat sich. Ich machte Pause. Mehrmals. Um es vorwegzunehmen: Bis Ende des Hackathons hatte ich bei meinem Projekt einen Follower. Ich fand aber einige Kontakte, die mir bei Fragen zu Wordpress in den nächsten Tagen weiterhelfen können.

Multi-Channel-mäßig unterwegs


Inzwischen kam auch mein Zugang bei Slack. Ich trug mich in die „ich biete“-Liste ein. Mein Angebot: Recherche, Texten, Wirtschaft und Finanzen und Marketing/Kommunikation und Fremdsprachen. Und schon ploppten die Anfragen auf. Vor allem Texten und wirtschaftliche Plausibilitätsprüfungen waren gefragt. Das Spektrum war breit gefächert: Eine Plattform, die auf die jeweilige individuelle Situation juristische, rechtliche und steuerliche Tipps für Selbstständige gibt und die dafür notwendigen Formulare bereitstellt. Patientenstrom-Regelungen in Echtzeit, um das Testen flüssiger und schneller durch genaue Slots zu organisieren und so die Ansteckungsgefahr in den Testzentren zu senken. Oder eine Plattform, die medizinisches Fach- und Hilfspersonal und Freiwillige deutschlandweit zusammenbringt - am liebsten irgendwann sogar weltweit. Damit in der Krise die Schwächsten nicht unter die Räder kommen, braucht es aber auch Projekte, wie das von Julian. Er und sein Team konzipierten eine Plattform für Straßenkünstler, die über Streaming kombiniert mit einem Online-Bezahldienst Kleinkünstlern in Not helfen will. Die Kommunikation lief häufig über Slack und andere Kommunikationsplattformen, aber auch ganz traditionell per Mail, Telefon und Handy. So entstanden dann die "Elevator Pitches", also die kurzen, strukturierten Zusammenfassungen der Idee (Herausforderungen, Lösungsweg, Teammitglieder etc), die bis Sonntagabend einzureichen waren -  meist unterstützt durch ein kurzes Video.

Virtuelle Party als Abschluss


Dann war Zapfenstreich. Bis Ende der Woche haben nun die Organisatoren, Behörden und Experten, aber auch die Öffentlichkeit, die Herausforderung, die 1.500 Projekte zu bewerten und die sinnvollsten herauszusuchen. Für die Teilnehmer bleibt der Slack Channel offen, Fragen können noch gepostet werden. Die Videos der Pitches sind auf YouTube zu sehen. Das öffentliche Stimmungsbild lesen die Initiatoren dann über die Likes ab.

Wir Teilnehmer trafen uns dann auf YouTube. Die Organisatoren bedankten sich und dann stieg eine Party mit DJ. Social distant, aber doch verbunden – über  Slack, YouTube, die gemeinsamen Projekte - und die Erfahrung, dass vereint, wenn man will, fast alles geht.

Der Hackathon #WirVsVirus in Zahlen:


43.000 Anmeldungen
27.000 aktive Nutzer:innen auf der Plattform
1.500 virtuelle Teams
1.500 Projekte in 48 Stunden aufgesetzt und bearbeitet
100 Projekte aus den Ministerien
1.900 Pat*innen für Herausforderungen
2.900 Mentor*innen
13.000 Profile bei Devpost
464.866 Slacknachrichten (and counting…)

Der Hackathon war nur ein Startpunkt. So geht’s weiter:


YouTube Playlist mit den Videos der Teams sind nun live für alle. Schaut es Euch an!
Jury und Öffentlichkeit bewerten und treffen die Auswahl der besten Lösungsideen – die Kriterien dazu findet Ihr hier
Ab Sonntag: Verkündung der Ergebnisse


Unsere Gastautorin




Beatrix Boutonnet ist freie Wirtschafts- und Finanzjournalistin und aktive Netzwerkerin. Sie leitet mit Sabrina Unterstell die Regionalgruppe München/Bayern des Journalistinnenbundes und engagiert sich neben ihrem Beruf seit vielen Jahren ehrenamtlich in unterschiedlichen Bereichen. 


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