Freitag, 8. Mai 2020

Zum 8. Mai 2020: Trotz Kriegsende nur wenig Zukunft. Würdigung der Journalistinnen Herta Zerna und Eva Siewert

von Christine Olderdissen und Stefanie Oswalt

Herta Zerna und Eva Siewert - wenn nur wenige Fotos bleiben
Fotos: HZ: Privatbesitz/Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin; ES: Autogrammkarte, Besitz Raimund Wolfert

Zwei Journalistinnen, beide Jahrgang 1907, unkonventionell, emanzipiert, politisch engagiert, Hitlergegnerinnen: Eva Siewert und Herta Zerna. Wegen der Verbreitung von Hitler-Witzen landet die eine im Gefängnis, die andere versteckt JüdInnen und RegimegegnerInnen und riskiert damit ihr Leben. Für beide allerdings ist der Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 nicht der erhoffte Tag einer politischen und sozialen Befreiung. Von den Zumutungen und Verlusten der Verfolgung und Gefahr erholen sich beide nicht mehr vollständig – und der Weg zurück in den Journalismus gelingt in einer Gesellschaft, die die Vergangenheit lieber verdrängt, nur zögerlich.

Christine Olderdissen und Stefanie Oswalt haben sich den Protagonistinnen auf unterschiedliche Weise angenähert. Zwei späte Würdigungen. Ein Werkstattgespräch unter jb-Kolleginnen.


Woher kommt deine Faszination für die portraitierte Person, eine Journalistin?


Stefanie Oswalt
Mich fasziniert an Herta Zerna erst einmal der Mut: diese instinktive Hilfsbereitschaft, verfolgten Menschen, Jüdinnen, Deserteuren, politisch Widerständigen, in Not zu helfen. Trotz allen Risikos, Lebensgefahr, Ungewissheiten. Dann kommt eine geradezu absurde Nähe hinzu: Unglaublich, sich vorzustellen, dass sie schon im gleichen Gebäude wie ich, im Haus des Rundfunks in der Berliner Masurenallee gearbeitet hat, mit dem gleichen Paternoster auf und ab fuhr, an der Pforte vorbei ging, im Studio gesprochen hat ... Diesen Mut zu haben. Lebensbiographisch beeindruckt mich dann ihr Ehrgeiz und ihre Unkonventionalität: Dass sie sich aus so kleinen Verhältnissen nach oben arbeitet, die Möglichkeiten der SPD für sich erkennt … aber auch ganz lebenspraktisch: 1937 fährt sie zu ihren jüdischen Freunden nach Guatemala.

Christine Olderdissen
Bei Eva Siewert ist es für mich zunächst ihr Weg in den Journalismus. Durch Zufall und Glück, so beginnen auch heute noch journalistische Karrieren. Sie hat eine schöne Stimme und wird, nach einer Persien-Reise, Sprecherin bei Radio Luxemburg. Sie ist eine Radiopionierin in den Anfangsjahren des Mediums. Und dann habe ich gespannt beobachtet, wie die Zeitläufte, die Naziherrschaft, der Mord an den Juden und der Krieg ihr persönliches und berufliches Schicksal extrem beeinflusst haben. Für den tragischen Ausgang ihrer Liebe zu Alice Carlé findet sie unglaublich berührende Worte in einer ganz eigenen Sprache. Ich spüre förmlich ihren Schmerz beim Schreiben der Texte. Und das zu einer Zeit, wo es schwer war, sich zu einer lesbischen Liebe zu bekennen, für uns heute kaum vorstellbar. Manches deutet sie eben nur an.

Was ist der Fokus deiner Geschichte?


Stefanie Oswalt
Herta Zerna glaubt an eine sozialdemokratische Gesellschaft - deshalb arbeitet sie für sozialdemokratische Blätter. Und sie glaubt an die Gleichberechtigung von Frauen – sie lebt relativ „frei“ – bindet sich nicht, probiert sich aus, schreibt für das erste erotische Herrenmagazin Deutschlands. Zugleich glaubt sie an die Gleichheit aller Menschen und beugt sich der nationalsozialistischen Ideologie nicht. Obwohl sie dafür einen hohen Preis zahlt: Gesundheitliche Schäden schon während der NS-Zeit; später findet sie journalistisch keinen Anschluss und arbeitet – mit unterschiedlichem Erfolg – schriftstellerisch. Wichtig ist mir ihre eigene Beschreibung ihres Engagements als „Banalität des Guten."

Christine Olderdissen
Dreh- und Angelpunkt von Eva Siewerts Geschichte ist ihr Text „Das Orakel“. Ihre schriftstellerische Auseinandersetzung mit dem fremdbestimmten Einschnitt in ihr Leben durch die NS-Herrschaft, die Frage der persönlichen Schuld, weil sie durch einen harmlosen Fehltritt die Freundin nicht vor der Ermordung in Ausschwitz retten konnte. Es ist eine sehr persönliche Geschichte, aber im Licht der politischen Verhältnisse. Und auch Eva bleibt nach dem Krieg eine Fortsetzung ihrer journalistischen Erfolge verwehrt. Im Radio war sie nicht mehr zu hören.

Welche Erzählebenen hast du gewählt? Wer informiert über das Schicksal der Protagonistinnen?


Stefanie Oswalt
Das Feature nimmt weitgehend die Perspektive Herta Zernas ein – gebrochen durch den Blick der beiden Historikerinnen von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, von denen eine Herta Zerna selbst noch kennen gelernt hat. Sonst hören wir Herta Zernas eigene Stimme – rückblickend, aus der Perspektive der 1960er-70er Jahre.

Christine Olderdissen
Eva Siewert spricht durch ihre Texte zu uns. Es gibt keine Tonaufnahmen von ihr, die Texte liest die Schauspielerin Sigrid Grajek. Sie war es auch, die den Historiker Raimund Wolfert und mich für das Webprojekt zusammengebracht hat. Raimund war bei Recherchen zum schwulen Literaten und Aktivisten Kurt Hiller auf Evas Texte gestoßen und hat in allen erdenklichen Archiven nach ihr gesucht. Seine Erkenntnisse waren die Grundlage für das Webprojekt. Ich habe es mit dramaturgischen Kunstgriffen zum Online-Erlebnis gemacht.

Wo ersetzt Fantasie die Lücken in deinen Quellen?


Stefanie Oswalt
Herta Zernas Geschichte war bereits von den Historikerinnen durch die Auswertung ihrer Entschädigungsakte bekannt. Es existieren von ihr auch noch zahlreiche Texte – vor allem Kurzprosa, Gedichte und ein paar Romane, die in Vergessenheit geraten sind. Ich habe mich immer gefragt, welche Persönlichkeit hinter diesen „harmlosen“ Texten steht – die im realen Leben so großen Mut bewiesen hat. Als wir die alten Sendungen ausgruben zeigte sich dann eine humorvolle, selbstironische, scharfzüngige sehr gebildete Frau, eine waschechte Berlinerin. Aus ihrer Stimme, ihren Formulierungen, auch Aussagen anderer formt sich für mich ein Bild – eine Annäherung, mehr nicht.

Christine Olderdissen
Raimund hatte eine signierte Autogrammkarte von Eva Siewert aufgetrieben. Dieses eine  Foto war der visuelle Startpunkt für unser ehrgeiziges Vorhaben, ihre Lebensgeschichte als Scrollytelling zu präsentieren. Die Malerin Minette Dreier hat auf Grundlage des Fotos Portraits gezeichnet, die Eva in verschiedenen Stimmungen zeigen. Auch ihre Geliebte hat sie gemalt. Ein Wagnis, denn wir wissen nicht, wie Alice Carlé ausgesehen hat. Aller persönlicher Besitz ihrer jüdischen Familie ist vernichtet. Immer wenn ich an die Stelle mit der Zeichnung der beiden Frauen komme, bin ich sehr berührt. Wie war ihre Liebe? Dürfen wir uns Details ihres Lebens herbeifantasieren? Dürfen wir uns ausmalen, wie Alice ausgesehen haben könnte?

Radio oder digitale Präsentation - worin siehst du Vorteile?


Stefanie Oswalt
Das Radio bietet hier die Möglichkeit, eine stringente Geschichte zu erzählen. Besonders schön: Es ließen sich noch alte Sendungen ausfindig machen, in denen sie selbst erzählt. Leider bleiben viele Inhalte auf der Strecke, gerade für die Präsentation von Texten bleibt kaum Raum. Und es fehlt die wichtige visuelle Ebene – die die Tragik des Schicksals von Herta Zerna noch einmal besonders hervorhebt: Infolge eines Attentats hat sie als junge Frau ein Auge verloren, ein Handicap, das ihr viele berufliche Chancen verbaut hat. Sicherlich bietet eine digitale Präsentation den Vorteil, eigenen Interessen bei der Recherche einer Person nachzugehen – und neue Erkenntnisse, neue Quellen und Funde zeitnah einzubauen.

Christine Olderdissen
Das Format des Scrollytellings, also beim Runterrollen einer Website eine Geschichte mit Text, Foto, Video und Audio zu erzählen, hat den Vorteil, viele Erlebnisebenen zu bedienen. Unschlagbar auch: als Webprojekt kann es jederzeit ergänzt werden. Erst vor kurzem fand Raimund ein Foto von Eva Siewert aus ihrer kurzen Zeit als Opernsängerin, das war im Nu eingebaut. Und auch die Literaturliste mit Evas Texten wächst dank seiner unaufhörlichen Suche ständig weiter. Es ist nur so, dass ein solches Webprojekt Muße zum Betrachten erfordert. Im Web springen wir ja eigentlich hin und her. Hier aber ist es gut, Stück um Stück zu lesen, zu betrachten, anzuhören. Ein Erlebnis wie ein gutes Buch, das wir ja auch nicht zack, zack durchblättern, oder wie ein Podcast, den wir von Anfang bis Ende anhören.

Was sagt dir so ein Leben heute?


Stefanie Oswalt
Herta Zernas unkonventioneller, gebrochener Lebensweg fasziniert mich. Vielleicht, weil er eigene Probleme und Krisen in eine Verhältnismäßigkeit bringt. Weil er den Blick öffnet für Entscheidungsfreiheiten und Perspektiven. Und weil Herta Zernas Beispiel Mut macht, sich irgendwie treu zu bleiben, selbst wenn der Zeitgeist den eigenen Träumen und Vorstellungen entgegensteht. In diesem Sinne verstehe ich mein Radiofeature über sie als eine späte Würdigung.

Christine Olderdissen

In einem ehemaligen Konzentrationslager nach dem anderen gibt es in diesen Tagen stille Gedenkfeiern zum Jahrestag ihrer Befreiung. Ich frage mich, wie mag sich Eva Siewert im Mai vor 75 Jahren gefühlt haben? Hat sie geglaubt, die Freundin kommt zurück? Gab es Hoffnung auf ein Wiedersehen? Und später dann: Sie war nicht mit Alice verwandt, es gab keine Anerkennung der Partnerschaft. Wie schwer musste es für sie sein, Auskünfte zu erlangen. Mit wem teilte sie diesen unsagbaren Schmerz und ihr Gefühl der Schuld? Wem konnte sie von ihrer tragischen Liebe erzählen? Ich bin dankbar, dass wir heute so anders leben können, in einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Und mir war es wichtig, Eva Siewert ein würdiges Andenken zu geben.


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Von der Banalität des Guten: Herta Zerna – Portrait einer unbesungenen Heldin
Kulturradio vom rbb, Sendung „Zeitpunkte“, 28.04.2020
Autorin: Stefanie Oswalt, Redaktion: Heike Kalnbach, Regie: Joachim Schönfeld
hier anhören

In Erinnerung an Eva Siewert: Eine Spurensuche
Website als Digitaler Gedenkraum
Webkonzept und -Design: Christine Olderdissen, Recherche: Raimund Wolfert
hier ansehen

Gedenkstätte Deutscher Widerstand: Ort der Erinnerung

Streaming-Tipp im Watch-Salon: Das dok.fest München lässt in seiner Schwerpunktreihe DOK.focus lasting memories Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus zu Wort kommen.

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Gastautorin

Foto: privat
Stefanie Oswalt ist freie Hörfunkjournalistin und Buchautorin. Ihre Leidenschaft gilt Biographien und der Zeitgeschichte, der Frage nach den Hoffnungen, Träumen, Brüchen im Leben. Sie schreibt über Erinnerungskultur sowie die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte.

2016 erschienen und im Watch-Salon besprochen: „Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“. Mit Eva Umlauf, Hoffmann und Campe.

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