Samstag, 31. Juli 2010

Liebe, Krieg und Feminismus

von Judith Rauch

Gerade habe ich Erica Fischers Roman "Mein Erzengel" verschlungen. Er spielt zu großen Teilen in den 1990er-Jahren zur Zeit des Bosnien-Kriegs. Die weibliche Hauptfigur Ruth ist eine selbständige Schmuckdesignerin und engagierte Feministin, ihr Mann Michael (der "Erzengel") gründet eine Hilfsorganisation für Flüchtlinge. Das Paar entfremdet sich in dieser Zeit, die Ehe geht schmerzhaft in die Brüche. Alles kommt jetzt auf den Prüfstand: Das Vorleben der beiden Ex-Liebenden, der sehr unterschiedliche Familien-Hintergrund, die politischen Bindungen, die Lebenslügen ...

Ich finde das Buch auch deshalb spannend, weil ich einen Teil der wahren Geschichte miterlebt habe.

Im Frühjahr 1993 nahmen mein Partner und ich in unser Wohnung eine bosnische Flüchtlingsfamilie auf, die vom Verein "Den Krieg überleben" vermittelt worden war. Martin Fischer, Ericas damaliger Mann, hatte die Ausreise möglich gemacht. Mein Freund und ich bürgten für Unterkunft und Unterhalt in der ersten Zeit. Sieben Monate lebten wir mit "unserer bosnischen Familie", es war eine anstrengende, aber auch schöne Zeit, und ich schrieb darüber im Mai 1994 eine Reportage für den Reader´s Digest. Die Geschichte ging um die Welt, viele Leser mochten sie, vor ein paar Monaten bekam ich sogar noch einen späten Fanbrief aus Indien dafür. Und mit dem Sohn der Familie, der in den USA lebt, bin ich per Internet in Kontakt.

Für diese Flüchtlinge und vermutlich für Tausende weitere, die "Den Krieg überleben" ins Ausland geschleust hat, ist der Krieg also glimpflich ausgegangen. Dafür hätte Martin Fischer ein Denkmal verdient. Durch Erica Fischers Roman erfahre ich nun aber auch von den dunklen Seiten solchen humanitären Engagements. Der Job ist gefährlich, nicht nur für den "Erzengel" in Bosnien, sondern auch für Ruth. "Wir können Ihre Frau jederzeit vergewaltigen lassen", drohen die Milizionäre, die Michael entführt haben, um ihn einzuschüchtern. Die Heimatadresse des Paars kennen sie bereits.

Und anderes passiert, mit dem nicht zu rechnen war: Dem humanitären Retter steigt die Dankbarkeit der Schützlinge, steigt das Allmachtsgefühl des Rettens zu Kopf. Das macht ihn rücksichtslos, nicht nur gegenüber Ruth, sondern auch gegebenüber seinen Mitstreitern. Auch solche Dinge geschehen vermutlich nicht nur im Roman, sondern auch in der Wirklichkeit. Und dass eine Feministin nicht davor gefeit ist, in eine traumatisierende Abhängigkeit von einem geliebten Mann zu geraten, vermutlich ebenso.

Erica Fischer ist es zu verdanken, dass sie das Private und das Politische schonungslos dokumentiert und analysiert, egal ob sie eine Biographie, ein Sachbuch oder einen Roman schreibt - so dass es selbst beim Lesen weh tut. Dafür bewundere ich sie, die JB-Kollegin, seit Langem.

2 Kommentare

  1. Liebe Judith,

    du kennst beide Personen und nimmst dennoch Ericas Sätze für bare Münze. Lies doch noch mal das Nachwort in Aimee & Jaguar (a href="http://web.archive.org/web/19981212020716/http://refugees.net/">. Damals, 1993 Eltern, die weggeschaut haben, 2010 ist der Vater SS-Offizier. Peinlich für Erica, aber auch peinlich für alle denkenden Leserinnen.


    Martin Fischer
    (ohne Denkmal & ohne SS-Offizier)

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  2. Dank an Martin Fischer für den Hinweis auf die archivierten Seiten der Organisation "Den Krieg überleben".
    Dort findet man unter "Pressespiegel" das Nachwort aus Erica Fischers Buch "Aimee und Jaguar" - und übrigens auch die Online-Fassung meines Reader´s-Digest-Artikels "Meine bosnische Familie".
    So ein Archiv ist doch eine feine Sache!
    Und natürlich nehme ich einen Roman nicht für "bare Münze". Dass der Vater der männlichen Hauptfigur SS-Offizier war, gehört für mich - bei allen Ähnlichkeiten zu lebenden Personen - zu den Verfremdungen der literarischen Bearbeitung, ebenso wie beispielsweise die holländische Herkunft von "Michael".

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