Mittwoch, 13. November 2019

Abschied von der DDR

von Gastautorin Gislinde Schwarz

Gislinde Schwarz 1988 auf Hiddensee / Foto: Katja Worch

"Wir haben unseren Alltag verloren, unseren Maßstab an die Dinge, unsere Identität." Das schreibt Gislinde Schwarz im Juni 1990. In den Monaten rund um den Mauerfall 1989 ist ihr Tagebuch Zeitzeuge des herbeigesehnten und dann doch überraschend schmerzhaften Übergangs von einem Staatssystem zum anderen. Die Journalistin, Redakteurin bei der Frauenzeitschrift FÜR DICH, erlebt den 9. November am Fernsehgerät, zuhause in Marzahn, während ihre zwei Kinder schlafen. Ihre Tagebuchaufzeichnungen druckte die EMMA im Oktober 1990 - mit Reflektionen der Autorin auf die soeben erlebte Zeitenwende. Wir veröffentlichen den Artikel anläßlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls hier noch einmal und mit freundlicher Genehmigung der EMMA-Redaktion.



Gislinde Schwarz

Abschied von der DDR


… nimmt unsere Kollegin Gislinde Schwarz. Es fällt ihr nicht leicht. Denn dieses Land hat sie „gehasst und geliebt“. Und sie weiß heute: „Menschen wie ich haben es geschafft, dass sich dieses System solange halten konnte.“ –

Nachfolgend Auszüge aus ihrem Tagebuch (kursiv). Und Überlegungen von jetzt.


Ich gehe durch Marzahn, mein liebgehasstes Neubau-Zuhause. Bunt das Angebot in den Geschäften. Bunt, fremd und schön. Ein Straßen-Cafè mit gelbem Camel-Schirm. Duft nach Pizza und frischen Blumen. Doch die meisten Stühle sind leer …

Ich muss Abschied nehmen von meinem Land. Ein Land, das mich klein gehalten hat, mich einschnürte und einpresste. Ein Land, in dem ich aber auch gewachsen bin, geliebt habe, gehasst, in dem ich meine Kinder geboren habe, das mir Arbeit gab. – Sterben nun meine Träume mit diesem Land?

September 1989

Für das Festheft zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung soll ich die Meinung einer jungen Mutter zu Papier bringen – ein Jubelbeitrag wird erwartet. Ich will das nicht. Aber ich habe in langen Jahren Disziplin gelernt. Wir sitzen uns gegenüber, reden davon, wie es uns geht. Die Fernsehbilder aus Ungarn. Junge Familien, auf der Flucht alles hinter sich zurücklassend. Warum? Die Lügen, die Propaganda: „Wir weinen ihnen keine Träne nach.“ Beide gehören wir zu jenen, die hier bleiben wollen. Aber wir haben so wenig Hoffnung für unser Land, für Veränderung. Zu oft sind Erwartungen enttäuscht worden. Was lässt sich jetzt noch ehrlich schreiben? Weshalb leben wir hier? Sie diktiert mir den ersten Satz: Weil ich hier beides sein kann – berufstätig und Mutter…

Habe ich diese DDR geliebt? Nein. Aber den nebulösen Traum: Dass es uns gelingen könnte, eine besserer, gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Es lebt sich gut mit solchem Traum. Und ich war damit korrumpierbar. In einer Gesellschaft, die ich ablehne, ist es leichter, mutig zu sein, sich zu wehren. Die Grenzen sind klar. Ich ging einen Kompromiss nach dem anderen ein – um „der Sache“ nicht zu schaden. Wusste oft gar nicht mehr, worin diese Sache eigentlich besteht …

Mit Dreizehn wollte ich weg aus diesem Land, fliehen. Nicht weil mich die Bundesrepublik lockte, sondern weil mich mein Zuhause enttäuscht hatte. Ein Zuhause, an das ich bis dahin absolut geglaubt hatte. Auslöser war das Westfernsehen. Das bei uns genauso geschaut wurde, wie in den meisten anderen Familien. Aber ich wusste: Darüber darf ich nicht reden. Wozu brauchte es solche Lüge? Was war dann noch gelogen? Plötzlich schien nichts mehr zu stimmen. Dann lieber dort leben, wo ich nicht glauben muss, nicht enttäuscht werden kann. Aber ich sah keine Chance, die Mauer zu überwinden mit Dreizehn, 1966.

Und es war ja auch kein Wohin, sondern nur ein Weggehen.
Jahre hat es gedauert, bis ich begriff: Ein Traumland gibt es nicht. Ich musste entscheiden: Wie will ich leben? Welcher Staat ist der Bessere? Dort wollte ich mitmachen, verändern. Mittendrin. Ich wurde Journalistin.
Die Bundesrepublik hatte ich  nie erlebt, hatte keine Verbindung dorthin.

Oktober 1989

Ich bin in Neubrandenburg. Besuche Menschen, deren Fotos mir in einer Ausstellung auffielen. Bin neugierig, möchte über sie schreiben. Mit zwei jungen Punkerinnen gehe ich zur ersten Demonstration hier. Wir ziehen mit Kerzen durch die Stadt. Immer mehr reihen sich ein, andere stehen fassungslos abseits, manche sind empört – ihre Ordnung stimmt nicht mehr. Wir im Zug sind voller Hoffnung und Träume. Da ist Fröhlichkeit, Offenheit, Neugierde, Zusammenhalt. Eine Gewissheit: Jetzt sind wir unterwegs.

Die Angst war weg. Eine Angst, die ich immer verdrängt hatte und in der wir alle lebten. Sich rechtfertigen müssen: Wieso bin ich mit einem Pfarrer befreundet? Jeder gedruckte Beitrag eine Gratwanderung. Bei jeder vorsichtig geäußerten Kritik die Erklärung, nicht schaden zu wollen. Forderung: „Keine Klagemauer!“ Mit wem durfte ich darüber sprechen, an wen sie weiter geben? Am Telefon der Satz: Du, darüber reden wir, wenn wir uns sehen. Nebulöse Gebote und Verbote – ein Disziplinarverfahren war schnell anberaumt: Nestbeschmutzer, Klassenfeind gar …
BRD-Frauen sagten mir später, dass auch sie Angst spürten, wenn sie sich der DDR-Grenzkontrolle näherten.

10. Oktober 1989

Endlich! Krenz, sein kurzzeitiger Nachfolger, hält im Fernsehen die Antrittsrede. Es sind die alten Worte. Auch die von den Frauen als „unentbehrliche Stützen der Gesellschaft“. Wende?
Wenig später lädt FÜR DICH Frauenforscherinnen an einen Tisch. Wie war das wirklich mit der Gleichberechtigung? Was müssen wir tun? Was muss getan werden? Es entsteht ein Offener Brief mit knallharten Forderungen: Quotierung, Zulassung einer selbständigen Frauenbewegung, Förderung eigener Lebensräume für Frauen …

Gleichberechtigung in der DDR – eine der größten Widersprüchlichkeiten. Mit ihrem Ziel trat dieser Staat an – und viele Vorraussetzungen wurden schnell und mit großer Vehemenz geschaffen. Wir hatten Krippen und Kindergärten, waren gut ausgebildet, berufstätig. Die Kehrseite: Von Beginn an gab es keinerlei Diskussionen darüber, was unter Gleichberechtigung eigentlich zu verstehen sei. Maßstab war die Situation des Mannes. Keine Lebensentwürfe, die darüber hinausgingen. Und schon gar nicht durfte darüber nachgedacht werden, wie auch eine sich sozialistisch nennende Gesellschaft patriarchal strukturiert ist.

Seit Beginn der 70er Jahre galt in der DDR die Frauenfrage als „soziale Frage.“ Und sie war damit „gelöst“. Wenig später kam noch ein Stillhalte-Geschenkpaket dazu – die sozialpolitischen Maßnahmen vom Babyjahr bis zur 40-Stunden-Woche. Nun ging es nicht mehr um Frauen sondern um bevölkerungspolitische Ziele. Sie sollte stärker für den Kinderwunsch motiviert werden. „Privilegien“, vorrangig oder sogar ausschließlich an Frauen adressiert! Ein deutlicher Platzverweis auf ihr „natürliches“ Ressort in der Familie. Folge dieser Muttchen-Politik: Frauen wurden  zunehmend verunsichert und überfordert, Männer zogen sich aus Vater- und Haushaltsverantwortung zurück. Auch in der Arbeitswelt wurden Frauen nun verstärkt benachteiligt. Vorwand: Die Frau, der unberechenbare Störfall.

Dennoch: Wir lebten in der Überzeugung, dass wir vieles hatten, wofür unsere westlichen Schwestern noch kämpften. Aber es gab keine Chance, sich öffentlich mit unseren „Errungenschaften“ auseinander zu setzen, Unzufriedenheit zu benennen. Feminismus galt als „klassenfeindlicher „ Begriff …

9. November 1989

Die Grenze ist auf, wird erstürmt. Nichts ist mehr, wie es war. Ich bin nicht mehr eingesperrt. Und nun?

14 Tage vorher war ich hinter der Mauer, zum ersten Mal in meinem Leben. Als Journalistin zu einem Treffen von Frauenforscherinnen in Westberlin. Das Visum hart erkämpft und bis zur letzten Minute ungewiss. Da saßen Frauen aus beiden Teilen der Stadt – neugierig aufeinander, ohne Angst. Ich wollte zuhören, reden und am liebsten mit allen zuerst. Lief am nächsten Tag wieder durch diese Stadt. Zog vom Ku-Damm nach Kreuzberg – mit fünf DM Spesen. Sah, dass Bananen billiger sind als Äpfel … Ich wollte alles sehen, begreifen. Auch, um es mitzunehmen für meine Kinder. Und überlegte doch schon, mit welch anderen Augen sie all das sehen würden. Sie, für die ein bunter Kaugummi, ein Poster, doch immer schon seltenes Glück war …

Eng haben wir gelebt, unsere Welt war klein – und damit unsere Kenntnis von der Welt. In Westberlin war ich in einem Frauenbuchladen. Da lagen so viele Titel, die ich nur vom Hören kannte, unbedingt lesen wollte: Simone de Beauvoir, Kate Millet, Betty Friedan, Alice Schwarzer. Aber noch soviel mehr, von denen ich nicht mal gewusst hatte, dass es sie gibt.

3. Dezember 1989

Wir rasen auf die Bühne, kreischen, schlagen mit Löffeln, mit Topfdeckeln. Etwa 40 Frauen, von denen ich einige seit Jahren kenne, andere erst wenige Wochen. Jetzt gründen wir unseren Verband! Frauen aus der gesamten DDR sind unserem Ruf in die Volksbühne gefolgt – so viele, dass die Feuerwehr um ihre Sicherheit besorgt ist. 

Wir glauben, dass alles möglich sein kann: eine neue Gesellschaft in der jede und jeder alle Möglichkeiten hat, sich zu entwickeln. Eine Gesellschaft, die nicht auf Konsum setzt, sondern auf Kultur. Nicht auf Autos, sondern auf ein öffentliches Verkehrsnetz, auf bessere Krippen, bessere  Kindergärten, bessere Schule. Wir wollen arbeiten und wir wollen Muße haben, für uns, unsere Kinder. Wollen nicht mehr soviel sinnlose Zeit verlaufen, verkochen, verwaschen müssen. Wollen Frauencafés und Zufluchtsstätten … Wir wollen schreien und tun es!

Die mutige fröhliche Revolution der DDR-Frauen … Aber nur eines kleinen Teils. Der Novemberforderung „Neue Männer braucht das Land“ stellen sie ihre eigenen entgegen, trugen sie in Demonstrationen, in basisdemokratische Initiativen. Selbstbewusst setzten sie ihre Teilnahme am zentralen Runden Tisch der DDR und auf kommunalen Ebenen durch. Große Zeit der Hoffnung.
Aber: Aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“ wurde zunehmend der nach einem Volk. Und viele Frauen sahen erstmal weit wichtigere Probleme als gerade jetzt „Frauenfragen“ auf den Tisch zu packen: Was wollt ihr, wir sind doch gleichberechtigt. Es lag an mir, wenn ich bestimmte Dinge nicht geschafft habe. Andere überlegten, ob es nicht tatsächlich besser sei, sich auf Frausein und die Familie zu besinnen, wenn Kindereinrichtungen tatsächlich so schlecht sind, wie nun überhall zu hören. Wäre dies nicht ein besseres Leben sofort – statt einer ungewissen Zukunft?

Januar 1990

Die enthüllenden Nachrichten häufen sich: Wandlitz, Korruptionen, Waffenschmuggel, Walter Janka … Was hat überhaupt je gestimmt? Jede Nachricht knüppelt mich tiefer. Ich wusste soviel und hab nichts wissen wollen. Eine Journalistin aus Bremen fragt, was ich mir wünschen würde, wenn eine Fee käme. Meine spontane Antwort: Wissen, was in zehn Jahren ist. Dann stocke ich. Schieb ich da nicht schon wieder Verantwortung von mir weg, suche den leichten Weg? Nein, ich habe keinen Wunsch.

Bitterste, schmerzhafteste Erkenntnis dieses Jahres: Nicht die Karrieristen und Dogmatiker konnten es schaffen, dass sich dieses System solange halten konnte, sondern Menschen wie ich. Die, die ehrlich glaubten, vieles anzweifelten und doch immer wieder versuchten. Die, die hofften, mit ihrem Tun verändern zu können und dabei doch nie Grundsätzliches infrage stellten. Nur sie waren wirklich glaubwürdig, konnten andere überzeugen …

Fünf Jahre ist es her, dass ich gehen wollte. Weg von FÜR DICH, raus aus dem Journalismus. Nie mehr Halbwahrheiten sagen, die Lügen sind. Es gab eine Aussprache. Ein Satz: Dass nach mir vielleicht eine andere käme, die noch weniger versuche. Und so machte ich weiter diese schmale Gratwanderung zwischen Verbot und dem kleinen Mut, sich zur Wehr zu setzten. Schuldig.

Februar 1990

Immer öfter klingelt auf meinem Redaktionsschreibtisch das Telefon. Ratlose Frauen: „Bei uns gibt es nicht mal mehr Milch.“ „Die wollen unseren Kindergarten zumachen.“ „Mir ist gekündigt worden.“ Der stellvertretende Bildungsminister stellt sich hin und meint, man müsse über Hort und Schülerspeisung noch mal gründlich nachdenken. Schwangere werden nicht eingestellt, Müttern gedroht, wenn sie wegen Krankheit ihrer Kinder fehlen. Frauen ziehen Scheidungen zurück, fürchten, allein nicht mehr bestehen zu können.
Und immer wieder die Frage nach Gesetzen, Unterstützung. Die Unsicherheit ist groß und die Verzweiflung.

Wie lebten Frauen in der DDR? 40 Jahre lang wurde für sie ein Leitbild kreiert und weiter entwickelt, auch von FÜR DICH. Die emanzipierte Frau ist voll berufstätig, gebildet, gesellschaftlich aktiv und versorgt ihren Mann und (mindestens!) zwei Kinder. Fast jede Frau wünschte sich ganz selbstverständlich Kinder und bekam sie dann sehr früh. Sie stand im Beruf „ihren Mann“ und leistete zusätzlich 75 Prozent der Hausarbeit. Hatte dank weitestgehender Unabhängigkeit ein sicheres Gefühl für den eigenen Wert, ließ sich ganz selbstverständlich scheiden, wenn sie eine Verbindung erdrückte – um dann oft krampfhaft nach dem nächsten Partner zu suchen.

Kaum vorstellbar: Lange Orientierungsphasen, bewusstes Alleinleben oder Experimentieren mit Lebensformen. So wurde das Leitbild für nicht wenige zum Leidbild. Die meisten sahen Misserfolge als eigenes Versagen, erkannten kaum Ungleichheit und Unterdrückung und schon gar nicht die Ursachen dafür. Zu vieles wurde von oben gewährt, statt selbst erstritten.

18. März 1990

Ich sitze im Zug nach Budapest, klemme das Ohr an mein winziges Radio. Höre immer wieder die Wahl-Hochrechnungen, um sie zu begreifen: Eindeutiger Sieg der „Allianz für Deutschland“, wenige Prozente für die Bürgerbewegungen, die Mutigen, die als erste für eine gerechtere Gesellschaft auf die Straße gingen. Vom Bündnis „UFV/Grüne“ erfahre ich erst bei meiner Rückkehr. Ganze zwei Prozent der Stimmen – und kein Sitz für den Unabhängigen Frauenverband. Von den Abgeordneten in der Volkskammer ist nur ein Fünftel weiblich.

Die Öffnung der Grenzen löste bei nicht wenigen DDR-BürgerInnen, die den Westen bisher auch nur aus den Medien kannten, einen Schock aus. Ein Schwarz-Weiß-Bild fiel in sich zusammen – und damit auch alle Vorstellungen von Richtig und Falsch, Gut und Böse, Freund und Feind. Dazu ein Lebensstandard, der für die meisten bisher unvorstellbar war. Und hatten nicht gerade Frauen die Mühseligkeit des DDR-Alltags mit völlig ungenügenden Dienstleistungen, einer zerfallende Infrastruktur und den ewigen Laufereien am Unmittelbarsten erlebt?

April 1990

Ost-West-Frauenkongress. Symbolisch organisiert in beiden Teilen der Stadt. Ich sitze im Vorraum des Westberliner TU-Hörsaales, verschanzt hinter Zeitungen. Bin geflüchtet, weil ich den Streit drinnen nicht mehr ertragen kann. So gehen Frauen miteinander um? So bösartig, so wenig bereit, einander zu begreifen? Frauen, die wissen, Frauen, die füreinander kämpfen wollen. Sieht so die Bewegung aus, von der wir soviel erhofft hatten? Vor allem: Ich kann nicht schon wieder Vorgefertigtes übernehmen, schon wieder blind vertrauen …

Frauenchance Ost-West: Dass es gelingen könnte, unser unterschiedliches Wissen und unsere unterschiedlichen Erfahrungen zusammen zu bringen. Dass wir einander zuhören, uns fragen – und antworten. Aber dies geht nur, wenn wir uns gegenseitig ernst nehmen. Miteinander streiten – aber nicht als Lehrmeisterin und Schülerin. Wir müssen Unterschiede kennen, um Gemeinsamkeiten zu begreifen. All dies geht nur bei gleich starken, selbstbewussten Menschen.

Reflektionen der Wendezeit:
Gislinde Schwarz in der EMMA 10/90

Juni 1990

Eine Woche Arbeitsbesuch in München. Weg vom Ausverkauf zu Schleuderpreisen. DDR-Waren, nach denen wir vorher rum liefen, für Spottgeld. Ich wohne bei einem Soziologen. Wir reden, reden, reden. Seine Frage: Nun sag mir endlich, was dir an dieser DDR so wichtig war, dass dich ihr Untergang so fertig macht!
Ich habe keine Antwort.


Im Bett heule ich, stopfe die Decke in den Mund. Kann nicht mehr aufhören. Es ist das erste Mal in diesem Jahr.

Was passiert für die BRD? Sie wird ein Stück größer, nicht mehr, nicht weniger. Für uns: Anschluss, Notaufnahme. Wir haben unseren Alltag verloren, unseren Maßstab an die Dinge, unsere Identität.

Juli – August 1990

Einen Tag vor der Währungsunion trennt mein großer Sohn das Pionieremblem von seiner Windjacke: „Mutti, ich weiß gar nicht, weshalb ich so traurig bin. Ich hatte mich doch so auf die D-Mark gefreut …“

Recherchen auf dem Arbeitsamt. Ich frage Frauen nach ihrer Situation. „Mein Mann kontrolliert neuerdings alles was ich am Tag tue“, sagt eine. „Er erwartet am Abend eine blitzsaubere Wohnung. Behandelt mich … Dabei bekomme ich doch mein eigenes Geld.“

Freude über den Döner Kebap auf dem Alex, die Blumen, die Pfirsiche, die ich nun selbstverständlich kaufen kann. Neben der Markthalle ein Uralt-Lkw aus dem Bezirk Neubrandenburg. DDR-Ware. Der Sechserpack Eier kostet eine D-Mark. Wenige kaufen. Ich frage nach dem Gewinn der LPG bei solchem Preis. „Gewinn? Wir verkaufen, um wenigstens den Strom für den Stall zahlen zu können und Futter, damit die Hühner nicht sofort krepieren.“

Das Telefon teurer, die Post, bald auch die Schulspeisung, Strom, Versicherung, Miete, die Kosten für den Trabi, ohne den ich nicht arbeiten kann. Ich lege wieder Vorräte an wie ehedem. Nicht, weil ich Angst habe, dass es dies morgen nicht mehr gibt – nun sind es billige Sonderangebote. Erst habe ich noch versucht, zu rechen, was zu schaffen ist mit zwei Kindern, einem arbeitslosen Mann, dem Drittel Gehalt einer Westkollegin. Aber nichts lässt sich mehr planen, nichts überschauen. Meine Söhne sind schon sehr selbständig. Ich kann unterwegs sein, schreiben.

In meiner Kaufhalle habe ich einen Stapel BRD-Frauenzeitschriften gekauft – nach meiner eigenen muss ich lange suchen. Ich blättere, beschaue schöne Fotos. Wenige Beiträge, in denen ich mich fest lesen kann. Dutzende Seiten voller Mode und Kochrezepte. Wie wichtig ist mir die Schönheit meiner Haut, die Schönheit meiner Haare, wenn es um Haut und Haare geht? Jetzt nicht, nicht für mich.

Eine neue FÜR DICH wollten wir machen. Bleibt uns noch genug Zeit?
Hickhack um den zweiten Staatsvertrag. Der Männer-Wahlkampf hat begonnen. Ich sehe mir die Gesichter an, drehe den Ton ab. Merke, dass ich wieder lachen kann. Am nächsten Tag die Nachricht: Fristenlösung als Übergang, nur noch fünf Tage bezahlte Freistellung bei Krankheit der Kinder, nicht mehr langer Haushaltstag, Kostenerhöhung für Kindereinrichtungen. BRD-Recht.

Abschied von der DDR. Kein Abschied, aus dem etwas Neues entsteht. Deutschland, einig Vaterland, ist nicht zusammen gewachsen, keine Partnerschaft Ebenbürtiger. Wir bleiben erstmal O und W – und Menschen zweiter und erster Klasse? War es gut, im östlichen Teil aufzuwachsen? Entscheiden zu müssen zwischen Beruf und Baby: Ich weiß nicht, wie ich gewählt hätte – und wie damit gelebt. Frauen, das unterdrückte Geschlecht? Das waren wir auch hier – und wussten es nicht einmal. Aber wir haben erfahren, dass wir Rechte hatten: Rechte auf selbstbestimmte Schwangerschaft, auf Arbeit, auf Wohnung, auf Krippen, Kindergärten, Schulspeisung und Hort. Sicher, für all das mussten wir unseren Preis zahlen. Heute wissen wir, dass vieles besser zu machen geht. Und dass wir dafür streiten müssen.

Der Abschied ist fällig.


Kurze Zeit, in der wir unsere Kraft spürten. Uns stark fühlten, von Unerhörtem träumten. Aber die Knüppel lagen schon bereit, auch in uns selbst. Nichts sollte bleiben von diesem Stolz, dem kurz erwachtem Selbstbewusstsein: Lernt erstmal arbeiten – wenn ihr dürft! Lernt, ein schlechtes Gewissen zu haben! Lernt, dankbar zu sein!

Ent-Täuschung tut weh. Aber sie ist eine Chance. Wenn wir nicht verdrängen – nicht unsere Irrtümer, nicht unsere Träume, nicht unsere Schuld und vor allem: Nicht unseren Mut. Langsames Erheben, keine Halbwahrheiten mehr. Mich wehren. Für mein Leben bin ich verantwortlich.
Jetzt werde ich den BRD-Alltag kennen lernen – mit dem großen Vorteil, vergleichen zu können.
I c h  b i n  n e u g i e r i g ...



Unsere Gastautorin


Gislinde Schwarz ist Autorin zahlreicher Bücher und Features für  den Hörfunk – und jb-Kollegin. Gemeinsam mit Rosemarie Mieder betreibt sie seit 1991 das Journalistinnenbüro Berlin.

1989 war Gislinde Schwarz Redakteurin bei der DDR-Frauenzeitschrift „Für Dich“ und wohnte in Berlin-Ost.

Foto:  Christian Muhrbeck




Mehr lesen:  

"Ankunft in einem fremden Land". Gislinde Schwarz in EMMA 11/12/2009

30 Jahre Mauerfall - Wie haben wir ihn erlebt?
Z
ehn sehr persönliche Erinnerungen an die Zeitenwende, aufgeschrieben von Kolleginnen aus dem Journalistinnenbund.

Kommentare

  1. Liebe Salonistas, danke dafür, dass ihr diesen Text von Gislinde aus der Versenkung geholt habt. Es steht eigentlich alles drin. Dazu muss ich nichts sagen, aber weiter verbreiten werde ich ihn. Und einen Dank an Gislinde!

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