Dienstag, 26. Juni 2018

Heimspiel für Anfängerin – Begegnung mit Alexandra Sell

von Eva Hehemann


Hauptdarstellerin Ulrike Krumbiegel kommt im Film schnell wieder auf die Beine / Foto: Flare Film_Kolja Raschke

An schwül-heißen Tagen in Köln ist der Appetit auf Eis allzu verständlich, allerdings eher auf Speise-Eis als auf die steinharte Eisfläche einer Berliner Stadionhalle in dem Spielfilm „Die Anfängerin“. Wo junge und alte SportlerInnen in Mützen und Handschuhen blitzschnell oder vorsichtig langsam an der Bande entlang gleiten und mehr oder weniger halsbrecherische Pirouetten trainieren. Das immerhin angenehm temperierte Kino der Kunsthochschule für Medien, KHM Köln, zeigte aber eben diesen Film im Juni in seiner Reihe „Heimspiel“, die den Studierenden der Hochschule die Arbeit ehemaliger AbsolventInnen vorstellt. Und den wollte ich unbedingt sehen! Vor allem weil Alexandra Sell, die Macherin des Films, aus Berlin kommen würde, um ihn vorzustellen.

Immer wieder gibt es erstaunliche Parallelen bei neuen Filmen, als lägen gewisse Themen einfach in der Luft. So kamen diesen Winter gleich zwei Filme über Eiskunstlauf in die Kinos – nicht unbedingt ein Sujet, das auf der Hand liegt. „I, Tonya“ befasste sich mit der wahren Geschichte von Tonya Harding, deren Karriere mit einem handfesten Skandal ein unglückliches Ende nahm. Die Hollywood-Produktion war mit Stars besetzt, hatte ein Budget von 11 Millionen Dollar und war an der Kinokasse ein Erfolg. Daneben hatte es der deutsche Film „die Anfängerin“, eine auch mit Fördergeldern und öffentlich-rechtlichen Mitteln finanzierte Produktion ungleich schwerer. Die fiktive Geschichte einer älteren Ärztin, die ihr Hobby Eiskunstlauf nach Jahrzehnten wieder aufnimmt, ist der erste Spielfilm von Alexandra Sell, die zuvor zwei mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilme gemacht hatte: „das Avon-Projekt“ und „Durchfahrtsland“.


Die Welt des Eiskunstlaufs als Sinnbild des Lebens


Schon bei einem Foto-Auftrag für Avon über die Kosmetik-Beraterinnen, den Sell während ihres Kunststudiums am Goldsmith-College in London realisierte, stieß sie auf eine leidenschaftliche Eiskunstlauf-Amateurin – der Samen für die Geschichte des Films war gelegt. Ihr Zielpublikum hat die Filmemacherin ganz bewusst gewählt: „Ich wollte für Frauen um die 50 zeigen, wie es ist, wenn eine Frau dieses Alters noch einmal ganz neu beginnen muss. Wie sie sich aus der Erstarrung und Routine ihres bisherigen Lebens befreit, sich selbst und damit ihr ganzes Leben verändert. Und es ist erstaunlich, wie gut das funktioniert! Ich bekomme so viel positive Resonanz von Zuschauerinnen, die mir sagen, dass ich in dem Film genau ihre Geschichte erzählt hätte. Auch in den USA passiert mir das. Die Amerikaner sind ja auch extrem begeistert von Eiskunstlauf. Dort wird der Film sehr gut aufgenommen, wir werden immer wieder auf Festivals eingeladen.“

Die grantige Ärztin Annebärbel, die nie die Erwartungen ihrer strengen Mutter erfüllen konnte, deren Mann sie für eine andere – und was ihre Mutter besonders entsetzt: sogar drei Jahre ältere! – Frau verlässt, die außer ihrem kleinen Hund niemand Freundliches im Leben hat, erfüllt sich ihren Kindheitstraum. Sie ist gestrauchelt und kämpft sich wieder hoch – wie beim Eislaufen. Die Eishalle wird zum Sinnbild des Lebens. Und bei aller Tragik (er)findet Sell immer wieder komische Momente, ohne sich dabei über die Figuren lustig zu machen. Dann wieder gelingt es ihr, die Zuschauer zu rühren, nicht selten zu Tränen. Wenn Annebärbel zum Schluss ihre erste Kür absolviert, im hellblauen Strass-besetzten Trikot, ist es trotz eines Sturzes ein Triumph. Und das gelungene Happy End auch für ein mit Herzblut, allen Hindernissen zum Trotz durchgezogenes Projekt.

Alexandra Sell in der KHM Köln mit Moderator Dietrich Leder (li.)
 und Koproduzent Joachim Ortmanns von Lichtblick Film
/Foto: Eva Hehemann
Die Tragikomödie wurde von der Kritik freundlich und vom Publikum im Osten Deutschlands begeistert aufgenommen, aber leider nur in wenigen west-deutschen Kinos gezeigt. Den Kino-Betreibern war die Geschichte zu „ostig“, ohne die dieses Manko ausgleichenden Elemente wie Stasi-Verbrechen oder Republik-Flucht. Der Film spielt im heutigen Osten Berlins und nähert sich seinen Figuren mit Sorgfalt und Respekt, die Wurzeln der Autorin und Regisseurin im Dokumentarfilm sind spürbar. Fiktion und Realität verzahnen sich in der noch heute bei älteren ehemaligen DDR-Bürgern verehrten Christine Stüber-Errath, der einzigen Berliner Eiskunstlauf-Weltmeisterin. Sie spielt sich selbst in einer Nebenrolle und ist wichtiger Bezugspunkt für die Hauptfigur des Films, Dr. Annebärbel Buschhaus, dargestellt von der großartigen Ulrike Krumbiegel. Bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt, fallen vor allem die jugendlichen Darstellerinnen auf. Angesichts des knappen Budgets hätte das Projekt ohne die Mitwirkung zahlreicher Laien-DarstellerInnen nicht realisiert werden können. Alexandra Sell führt ihr Ensemble souverän.


Sehnsuchtsräume damals und heute


„Ich wollte keinen typischen Ost-Film machen, keine politische Geschichte, auch wenn die Off-Story in die Vergangenheit reicht. Es gab in der DDR nicht so viele Sehnsuchtsräume für die Menschen; der kollektive Traum vom Eis war einer davon. Die hübschen jungen Mädchen besserten das Image des Landes auf, sie reisten um die Welt. Diese Chancen, die der Sport den Menschen versprach, machten ihn so attraktiv. Und jedes kleine Mädchen träumte von einer Karriere wie der von Christine Errath; sie war ein richtiger Kinderstar. Als ich sie während meiner Recherche kennenlernte, zeigte sie mir Körbe voller Fan-Post, darunter Briefe von ganz normalen Frauen von Nebenan. Und ich dachte, wie es sich wohl angefühlt haben muss, wenn die eigene Mutter so ein Über-Mädchen bewunderte. Daraus entstand dann der zentrale Mutter-Tochter-Konflikt meines Films, das dramaturgische Rückgrat.“

Beim Eiskunstlauf-Wettkampf der Amateure in Oberstdorf 2018 kurz vor dem Auftritt  / Foto: Alexandra Sell

Alexandra Sell erzählt, dass sie ihr ursprüngliches Drehbuch immer wieder umschreiben musste, um sich die Finanzierung der beteiligten Geldgeber zu sichern. Sieben Jahre hat sie gebraucht, um den Film fertigzustellen. Jahre, in denen die allein-erziehende Mutter eines Sohnes sich oft keinen Babysitter leisten konnte. „Das Filme-Machen ist eben irre kostspielig, es sind so viele Menschen involviert, die alle auch etwas zu sagen haben und sich in den Prozess einmischen. Das kann sehr verunsichernd sein. Dabei haben es Frauen in diesem Geschäft nochmal schwerer als die männlichen Kollegen, die nötigen Gelder aufzutreiben.“ Nur ein Fünftel des Gesamt-Budgets der deutschen Film-Förderung wird an Frauen vergeben. „Deswegen ist es mir wichtig, bei ProQuote-Film mitzumachen. Es tut richtig gut, Kolleginnen zu treffen, denen es ähnlich geht, und sich gegenseitig zu ermutigen.“ Der viel beachtete, auf der Berlinale gehaltene Vortrag von Dr. Jutta Brückner „Bildet Banden“ hat sie tief beeindruckt. „Solange Frauen aber nicht aufhören, das männliche Modell zu kopieren und die Kolleginnen nur als Konkurrenz zu sehen, haben wir ein Problem.“

Vorerst arbeitet Alexandra Sell wieder als Fotografin. „Ich muss Geld verdienen. Und ich habe große Freude an der Fotografie, das ist Seelen-Nahrung. Außerdem gibt es dabei nur mich, die Kamera und den Kunden, keinen Riesen-Apparat wie beim Film.“ Das Thema Eiskunstlauf lässt sie dabei nicht los. Sie arbeitet an einem Foto-Projekt über die internationale Amateur-Wettkampf-Szene, die – weitgehend unbekannt und undokumentiert – hunderte TeilnehmerInnen anzieht. Mit ihrem Debüt-Spielfilm hat sie sich das Vertrauen dieser Menschen verdient. „Eiskunstlauf-Star Marina Kielmann, Vize Europameisterin von 1992, hat mir bescheinigt, dass mein Film der erste sei, der ein authentisches Bild von der Welt des Eiskunstlaufs vermittelt. Das hat mich doch sehr stolz gemacht.“ Und natürlich arbeitet sie auch an einem neuen Drehbuch. Den Studierenden der KHM Köln, die die Filmvorführung anschauten, empfahl sie: „Tobt Euch aus! Die Zeit der Ausbildung ist eine Schonzeit, ein Geschenk an Freiheit und Möglichkeiten.“


„Die Anfängerin“ gibt es ab jetzt auch auf DVD. Ein Sende-Termin in der ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ steht noch nicht fest.

Kommentare

  1. Oh, vom Eislaufen habe ich immer auch geträumt. Toller Film, danke für den Tipp.

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