Mittwoch, 24. April 2019

Europa-Wahl 2019 #1. SZ-Korrespondentin Cathrin Kahlweit glaubt: "Es wird wohl gar keinen Brexit geben."

von Tina Stadlmayer

Vor der Europa-Wahl zwischen dem 23. und dem 26. Mai fragen wir Kolleginnen, die über Europa berichten, nach ihrer Arbeit und danach, wie sie die aktuelle Situation einschätzen.

Cathrin Kahlweit ist "im Herzen Münchnerin und im Kopf, in der Seele und mit den Füßen Europäerin."
Foto: Jörg Buschmann

Im Moment ist in Europa richtig was los! Erstarkende rechte Parteien bereiten mit ihren populistischen Kampagnen den Pro-EU-Kräften Sorgen und Wahlverluste. Die Diskussionen über den Brexit und den US-Präsidenten Trump vertiefen die wohl schon lange schwelende Spaltung der verschiedenen politischen Lager. Nachdem der Brexit-Termin inzwischen zum zweiten Mal verschoben wurde, können Korrespondent*innen in Großbritannien erst einmal etwas durchatmen. Doch bald wird es wieder stressig werden, denn das britische Parlament müsste sich demnächst auf einen Austrittsvertrag einigen, oder Großbritannien muss an der Europawahl teilnehmen. London-Korrespondentin Cathrin Kahlweit glaubt jedoch nicht an eine schnelle Einigung. Im Gegenteil, sie geht davon aus, dass der Brexit ganz ausfallen wird.



Cathrin Kahlweit studierte Politikwissenschaft und Russisch in Tübingen, Göttingen, den USA und der UdSSR. Nach einem Trainee-Programm bei der Dresdner Bank besuchte sie die Hamburger Journalistenschule und arbeitete kurzzeitig für "Die Zeit" und das "Bayerische Fernsehen". 1989 wurde Kahlweit außenpolitische Redakteurin der Süddeutschen Zeitung (SZ) mit Spezialgebiet Osteuropa, bevor sie für etwa ein Jahrzehnt in die Innenpolitik und zu den Themen des Tages wechselte. Nach einem knappen Jahr als Redaktionsleiterin von Anne Will bei der ARD kehrte Kahlweit zur SZ zurück und arbeitete von 2012 bis 2017 als Korrespondentin für Mittel- und Osteuropa mit Sitz in Wien. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in London und schreibt seitdem für die SZ über Politik und Gesellschaft – und vor allem über den Brexit – aus dem Vereinigten Königreich.

Sie berichten in den vergangenen Monaten fast täglich über den Brexit. Was ist das Spannende und was ist das Anstrengende daran?


Anstrengend ist, dass die Arbeit mein Privatleben auffrisst, mehr als jemals zuvor in meinem Berufsleben. Aber das Thema ist immer noch spannend. Ich finde den Brexit faszinierend, weil er alles beinhaltet, was Politik ausmacht: Wie findet man einen Kompromiss? Wie funktionieren Parteien? Wer hat Charisma und wer nicht? Die Leute interessieren sich auch in Deutschland sehr für den EU-Austritt, weil er eine Farce, ein Drama, eine Tragödie ist. Die Leute wollen dieses Drama erzählt bekommen, das ist wie "Lindenstraße" in der Politik. Sobald wir mit einer Brexit-Geschichte online gehen, wird sie sehr viel geklickt.

Sollte es in den kommenden Wochen keine Einigung über den Austrittsvertrag geben, wird Großbritannien an der Europa-Wahl teilnehmen müssen. Wie wird das ausgehen?


Es ist völlig verrückt. Die Gesellschaft ist in drei Gruppen gespalten. Da gibt es die Nationalisten um Nigel Farage, die sagen: Jetzt zeigen wir es der EU mal richtig. Wir wählen und machen dann Ärger innerhalb der EU. Das Brexit-Lager um Farage ist in einer großartigen Lage, weil es gegen das Establishment mobilisieren kann. Ich gehe davon aus, dass das populistische bis rechtsextreme Lager bei 30 bis 40 Prozent landen wird. Dann gibt es die Brexit-Gegner, die hoffen, dass sie die Gunst der Stunde nutzen können, getragen von den sechs Millionen Unterschriften gegen den Austritt und einer proeuropäischen Stimmung, die in den vergangenen zwei Jahren bei jenen, die gegen den Brexit waren, gewachsen ist. Es wird spannend zu sehen, ob es die Labour Partei schafft, sich als Remain-Partei darzustellen. Mit Jeremy Corbyn an der Spitze wird das nicht einfach, weil er bis heute kein überzeugter Brexit-Gegner ist. Und schließlich gibt es die große Gruppe derer, die sagen: Zur EU-Wahl gehen wir sowieso nicht hin. Vor allem die Konservative Partei ist in einer fatalen Lage: Wie soll sie für eine Wahl mobilisieren, die sie eigentlich vermeiden will?

Europa wählt - vier Tage lang


zum Beispiel:
Großbritannien: Donnerstag, 23.5.

Irland: Freitag, 24.5.
Slowakei: Samstag, 25.5.
Deutschland: Sonntag, 26.5.

Sie leben und arbeiten in London, was bedeutet das für Ihre Berichterstattung über den Brexit?


Die Diskussion um den Brexit verengt sich zunehmend auf London. Vor dem Referendum gab es einen landesweiten Diskurs: Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Wo wollen wir hin? Seitdem das Parlament über den Austrittsvertrag entscheiden soll, findet dieser Diskurs überwiegend in der Hauptstadt statt. Die Abgeordneten und die Regierung schauen kaum noch nach außen. Ich versuche natürlich die Blase regelmäßig zu verlassen und war zum Beispiel mehrmals in Nordirland. Dort sprechen die Leute völlig anders über die EU. Außerdem war ich am Meer, wo die Themen Fisch und Tourismus wichtig sind, und im industrialisierten Mittelengland. Spannend ist auch, wie unterschiedlich die vier Nationen den Brexit sehen. Die Schotten, die Nord-Iren und große Teile von Wales haben dagegen gestimmt. Die Schotten sagen, wir wollen lieber unabhängig werden und in der EU bleiben. Die Nord-Iren sind, über Partei- und Religionsgrenzen hinweg, wütend auf die Engländer, die ihnen eine nationalistische Agenda aufzwingen. Das Wiedervereinigungsstreben in Irland wird eine große Kraft erreichen, wenn es den Brexit geben sollte.

Was haben Sie beobachtet, wie hat sich die Gesellschaft in Großbritannien seit dem Brexit-Referendum vor zweieinhalb Jahren verändert?


Bei meinen Recherchen hat sich herausgeschält, dass es zwei gegenläufige Trends gibt: Da sind die Pro-Europäer, die beim Referendum eher aus dem Bauch heraus gestimmt haben. Sie sind inzwischen sehr viel besser informiert, sie wissen genau, was ihnen die EU bedeutet. Dann gibt es die Gruppe der Brexit-Befürworter. Sie sind wütend, weil sie sich um den Brexit betrogen fühlen. Diese Wut nimmt zu, aber die Euroskeptiker haben aufgehört, die ganze, komplizierte Debatte überhaupt zu verfolgen. Sie sagen: Lasst uns endlich die EU verlassen, egal wie. Ich habe nur sehr wenige Menschen getroffen, die umgedacht haben und ihre Entscheidung beim Referendum heute für falsch halten.

Welches Verhältnis haben die Britinnen und Briten zur EU und wie hat es sich in den vergangenen Monaten verändert?


Bei denjenigen, die den Brexit befürworten, gibt es ein großes Erstaunen darüber, dass die EU ziemlich gut organisiert ist und in ihrer Einigkeit nun Großbritannien vorführt. Da ist der Respekt gewachsen, nicht aber die Liebe. Diejenigen wiederum, die von Anfang an gegen den Brexit waren, erkennen zunehmend, dass die EU finanzpolitisch, wirtschaftspolitisch und kulturell wirklich wichtig ist. Die länderübergreifende Solidarität innerhalb der EU betrachten sie mit Neid. Sie sehen sich plötzlich in einem Boot, das auf den Atlantik fährt - und sie möchten aber eigentlich gar nicht in dem Boot sitzen.

Wann wird es den Brexit geben?


Es wird wohl gar keinen Brexit geben. Ich war lange der Meinung das ein No-Deal-Brexit passiert, weil die Nordirlandfrage nicht zu lösen ist. Inzwischen glaube ich zwar immer noch, dass es keine Lösung für eine EU-Grenze in Irland geben wird, aber seit der zweiten Verschiebung des Austrittsdatums gehe ich davon aus, dass auch das Momentum für den Austritt nachlässt. Die Brexit-Sehnsucht dürfte in den nächsten Monaten nachlassen, und der Streit bei den Konservativen wird dazu führen, dass immer weniger Menschen die Hardliner unterstützen. Das Parlament wird sich mittelfristig nicht auf einen Austrittsvertrag einigen können und zum Schluss wird es ein Referendum geben, in dem eine knappe Mehrheit gegen den Brexit stimmen wird.

Kahlweit kommt auch mit schwierigen Arbeitsumständen zurecht, wie hier bei einer Recherche in Ungarn. / Foto: privat

Was bedeutet die EU für Sie persönlich und welche Defizite siehen Sie?


Mein jüngster Sohn hat mich neulich gefragt: Mama, Wo gehöre ich hin? Er ist in Frankfurt geboren und in München aufgewachsen, hat seine Pubertät in Wien verbracht, war ein Jahr in Amerika, seine Eltern kommen aus Bayern und Niedersachsen und leben jetzt in London. Ich habe gesagt, Heimat ist eine Herzensfrage und keine Passfrage. Ich bin im Herzen Münchnerin und im Kopf, in der Seele und mit den Füßen Europäerin.

Aber Europa hat auch Defizite. So finde ich es bedauerlich, dass das Europaparlament keine Gesetze initiieren kann. Ich bedaure es auch, dass wir keine wahre Sozialunion haben. Mein größtes Problem mit der EU aber ist, dass wir in der Flüchtlingskrise immer hartherziger und unmenschlicher werden und unsere Werte verraten. Es kann nicht sein, dass die EU nichts dagegen tut, wenn im Mittelmeer Menschen ertrinken, und dass sie sogar noch mit Libyen gemeinsame Sache macht, obwohl bekannt ist, wie groß dort die Menschenrechtsverletzungen sind. Es macht mich daher regelrecht fassungslos, dass die Union, die offiziell die Europäische Menschenrechtskonvention hochhält, dies zulässt.


Update vom 1. Juni 2019:

Welche Auswirkungen hat der Ausgang der Europa-Wahl auf die Brexitverhandlungen? 


Der eindeutige Wahlsieg von Nigel Farage und seiner Brexit-Partei ist, auch wenn Farage das gern so sehen möchte, nicht zwingend ein Präjudiz für mögliche vorgezogene Neuwahlen. Denn der Erfolg der Brexit-Party lässt sich nicht eins zu eins auf Parlamentswahlen im Königreich
übertragen. Bevor es zu solchen Wahlen kommt, werden die Tories mit großer Wahrscheinlichkeit einen Brexiteer zum nächsten Premier küren. Und der wird No Deal ansteuern. Die Konsequenz daraus wird sein, dass sich der Krieg zwischen der Regierung, die dann einen solchen No Deal umsetzen muss, und dem Parlament, das diese Katastrophe unbedingt verhindern will, weiter fortsetzt. Das bedeutet eine Verlängerung der Krise - mit unabsehbaren Folgen für das Land.


Wie berichten Journalistinnen über Europa?
Unsere Serie zur Europawahl 2019.



2 Kommentare

  1. Liebe Salonistas,
    die Europaserie ist richtig gut, interessant und vielsichtig. Danke sagt Inge v. Bönninghausen

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  2. Liebe Salonistas, die Europaserie ist richtig gut und vor allem vielsichtig. Ich bin gespannt, ob die teils mutigen Vorhersagen zutreffen werden. Danke sagt Inge v. Bönninghausen


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